Für wenig anderes können sich deutsche Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer derzeit so sehr begeistern wie für außergewöhnlich begabte Kinder und authentisch nacherzählte Verbrechen. Um diesem Verlangen nach Zerstreuung und Nervenkitzel gerecht zu werden, verlängern Sender ihre etablierten Formate und setzen bekannte Protagonisten auf neue Themen an – stets in der Hoffnung, dem Publikum im gewohnten Programmumfeld etwas Neues zu bieten, ohne es dabei zu überfordern.

Wobei man vielleicht einschränkend hinzufügen muss: Vieles davon ist doch arg berechenbar. Irgendwann werden alle mysteriösen Mordfälle, die dieses Land zu bieten hat, erzählt sein; jeder Drogenschmuggler aus den Siebzigern, der heute eine günstige Görlitzer Einzimmerwohnung bewohnt, wird ausführlich von früheren Eskapaden berichtet haben. So wird das natürlich nix mit dem langfristigen Erfolg. Dabei könnte es so einfach sein, Netflix und Prime Video diesmal eine Spur voraus zu sein!

Was hat das deutsche Fernsehen en masse? Genau: erfolgreiche Programmmarken! Und was braucht das deutsche Fernsehen? Den Mut, ganz neu zu denken: zum Beispiel, indem alles, was bisher "Kids" war, "Crime" wird – und andersherum!

Wie ticken die Kids? Was treibt sie an?

In der vergangenen Woche hat Jenke von Wilmsdorff bereits bewiesen, dass seine Nase zur Markenverlängerung taugt – konsequent wäre, als nächstes eine weitere Line Extension folgen zu lassen. Ein Vorschlag: Passend zu seinen aufgefrischt-jugendlichen Gesichtszügen taucht der ProSieben-Reporter für "Jenke. Kids." tief in die Lebenswelt der Acht- bis Zehnjährigen ein. Von Wilmsdorff will wissen: Wie ticken die Kids? Was treibt sie an? Und wie ist es möglich, dass Mädchen und Jungs aus gutem Hause in kurzer Zeit zu Feuerwehrmännern, Tierärztinnen, Profi-Fußballern und Astronautinnen werden? "Ich begebe mich auf Spurensuche", verspricht er seinem faszinierten Publikum und sucht (mit hochgestelltem Jackenkragen) Originalschauplätze auf, die im Leben der Porträtierten eine zentrale Rolle einnehmen: Spielplätze, Freizeitparks, Reiterhöfe. Fotografische Dokumentationen dieser Stationen werden zusammen mit Zeugnissen und Ausmalbildern an eine große Wand gepinnt und mit roten Fäden verbunden. Das sieht einfach wahnsinnig gut aus.

Jenke Crime © Screenshot ProSieben Ohne Pinnwand brauchen Sie sich auf internationalen Profiler-Kongressen gar nicht erst blicken zu lassen – "Jenke. Crime." macht's vor.

Unterstützung erhält Jenke im Eins-zu-eins-Gespräch von Profilerin Suzanne Grieger-Langer. Denn sie versteht die Triebfeder der zukünftigen Erwachsenen, die Mechanismen, die ihnen zugrunde liegen. In Kita und Grundschule führt Jenke Gespräche mit einstigen Weggefährtinnen und Weggefährten, die Überraschendes zutage fördern. Und er fasst im Anschluss bei "Late Night Berlin" nochmal seine wichtigsten Erkenntnisse zusammen, um Zuschauerinnen und Zuschauern unterschwellig das Gefühl zu geben, dass sie sich die zwei Stunden davor auch hätten sparen können.

An das kürzlich gelaufene Staffelfinale seiner Castingshow für Nachwuchsgesangstalente schließt Sat.1 derweil mit der nächsten Auskoppelung an: "The Voice Crime". In den "Blind Auditions" muss die prominent besetzte Jury aus Arno "Dagobert" Funke, Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek (angefragt) und Mitgliedern des Berliner Abou-Chaker-Clans auf dem Doppelstuhl heraushören, welche der auf der Bühne performenden Zeuginnen und Zeugen schon mal bei der Polizei gesungen und jemanden verpfiffen haben. Durch die Sendung führt Branchenkenner und Multitalent Menowin Fröhlich.

Immer schön nach XY auflösen

Klar, dass RTL da knallhart gegenhält – und für "Let's Dance Crime" besonders schwere Geschütze auffährt. Uli Hoeneß, Jan Ulrich, Martin Semmelrogge und Ingrid van Bergen wollen der Tanzshow-Jury demonstrieren, dass ein ehrgeiziger Cha Cha Cha noch niemanden hinter Gitter gebracht hat. (Bloß Joachim Llambi sollte sich diesmal mit seiner Kritik besser nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.)

Dass die öffentlich-rechtlichen Sender den Kids/Crime-Trend nicht an sich vorbeiziehen lassen wollen, versteht sich eigentlich von selbst. Und seit langem hat auch der WDR endlich mal wieder die Nase vorn: Intendant Tom Buhrow sagt sorry dafür, dass der 15-fache Bestsellerautor und Deutschlands bekanntester Leichenöffner Michael Tsokos aus dem Münsteraner "Tatort" rausgeschnitten wurde, um keine Werbung für dessen TVNow-Kooperation mit Jan-Josef Liefers machen zu müssen – und schenkt ihm zur Wiedergutmachung dieser "brandgefährlichen" "Zensur" einen zukünftigen Hit im Ersten: "Tatort – Die jungen Rechtsmediziner", während der Sommerpause von "Anne Will" auf dem Sendeplatz am Sonntagabend. Mit köstlicher Situationskomik, versteht sich. Und, weil's nicht anders geht, auch mit Jan Josef-Liefers, der (wie bei TVNow) zurecht von sich behauptet: „Da bin ich so'n bisschen Fährmann zwischen Wissenschaft und Publikum.“

Auf dem Mainzer Lerchenberg besinnt man sich derweil seines Bildungsauftrags und startet als Teil des in der vergangenen Woche von der Bundesregierung beschlossenen Corona-Aufholprogramms für Schülerinnen und Schüler "Aktenzeichen XYZ… ungelöst": Rudi Cerne lässt aufgeweckte ABC-Schützen Matheaufgaben lösen, die während des Homeschoolings der vergangenen Monate liegen geblieben sind. (Besonders schwer: Gleichungen nach XY auflösen.)

Kai Pflaume präsentiert: "Crime gegen Groß"

Absolute Straßenfegerqualitäten besitzt der große Show-Neustart im Ersten, in dem Prominente bei Kai Pflaume demonstrieren müssen, ob sie dem Geschick hauptberuflicher Betrügerinnen und Schwerverbrecher gewachsen sind – und zwar in der Premiere von "Crime gegen Groß – Das unglaubliche Duell"! Wird es Samu Haber im großen "Feil-Duell" gelingen, die Gitterstäbe seiner Studiozelle schneller brechen zu lassen als der  eingeladene Ausbruchsprofi? Wie schlägt sich Heike Makatsch im "Fälscher-Duell" bei der Fertigung von Impfausweisen, die täuschend echt aussehen müssen, um auf dem Schwarzmarkt Bestand zu haben? Auf Bernhard Hoëcker wartet derweil seine bislang schwerste Aufgabe, für die ihm all sein bisher gesammeltes Wissen nichts nützen wird: Die möglichst unauffällige Nichtversteuerung seiner ARD-Honorare auf einem eigens für die Sendung angelegten Schweizer Bankkonto im großen "Steuer-Duell"! (Jürgen Vogel ist mit seiner Rubrik "Crime gegen Vogel" natürlich ebenfalls dabei.)

So wird's vermutlich ein Kinderspiel sein, diese beiden wichtigen Programmttrends auch weit über ihren Zenith hinaus zu strecken und kontinuierlich Top-Quoten zu erzielen. Gern geschehen, deutsches Fernsehen!

Und damit: zurück nach Köln.

Das "Jenke. Crime"-Original läuft dienstags bei ProSieben und zeitunabhängig bei Joyn.