Das Tollste am Reisen? Sind die vielen neuen Eindrücke, die man am Ende mit nachhause nimmt! Und dass, wenn man erstmal unterwegs ist, die verrücktesten Dinge passieren können. Hape Kerkeling zum Beispiel ist neulich als Fernsehfuzzi ins Rathaus von Vaduz reingestapft – und als Bürgermeister wieder raus. Das Amt inklusive Schärpe ward ihm von seinem Vorgänger und Nachfolger ("Manfred, sag einfach Hape zu mir") zwar bloß für einen Tag verliehen. Aber der reichte völlig aus, um sich in der Fußgängerzone von den Bürgerinnen und Bürgern vaduzt, Pardon: verdutzt versichern zu lassen, dass es für ihn ohnehin nichts zu verbessern gäbe.

"Was kann ich für Sie tun?" – Nichts, alles prima hier.

Das offensichtlich paradiesgleiche Liechtenstein ist der zweite Zielort in Kerkelings neuer Vox-Reihe "Hape und die 7 Zwergstaaten", in der der Namensgeber verspricht, "das letzte Rätsel des modernen Europas" lösen zu wollen: nämlich warum sich die vielen Klein- und Kleinstmächte noch nicht von ihren größeren Nachbarn haben erdrücken lassen.

Auf einen Chardonnay mit Prinz Nikolaus

Von jeder Reise bringt Kerkeling ein gut gelauntes Dreiviertelstündchen mit – und seinem Publikum ein klein bisschen was über die Staatenwerdung des jeweiligen Ziels bei, wenn er in die Rollen wichtiger Landespersönlichkeiten schlüpft, um einen Blitzabriss der Historie zu liefern. Gleichzeitig trifft sich er sich an prägenden Orten mit Leuten, die ihm erklären, was ihr Zuhause in der Gegenwart ausmacht.

Hape und die 7 Zwergstaaten © RTL "Ich geh vor, ich bin ja der Bürgermeister": Kerkeling in Liechtensteins Hauptstadt Vaduz.

In Liechtenstein spaziert Kerkeling erst mit Prinz Nikolaus in dessen Weinbergen, wo er wissen will, wovon man eigentlich als Fürst so lebt, um anschließend mehr als deutlich auf ein Gläschen Chardonnay zu drängen: "Ich muss zugeben, ich krieg langsam einen trockenen Mund." Er gibt sich angesichts des angenehmen Steuersatzes von 12,5 Prozent für die beabsichtigte Einbürgerung selbst zur Adoption frei. Und rauscht zum Eselfest von Malbun, um dort eine ehemalige Skirennfahrerinnen zu treffen, die heute als Kulturbotschafterin tätig ist, sägt unter Anleitung eines Kettensägenschnitzers eine Grumpy Cat aus einem Holzblock und kippt beim Rebelkollakochen ein paar Schnäpse mit Anneliese vom örtlichen Damenclub.

Es ist eine wahnsinnig angenehm zu sehende Mischung aus Landesschau und Klamauk, die nicht viel mehr will, als ihr Publikum gut zu unterhalten und ihm ein Gespür für ein Land zu geben, das anders tickt als das eigene.

Das liegt auch daran, dass Kerkeling ein ehrliches Interesse für Destinationen und Traditionen mitbringt, und trotz aller Onkeligkeit, die man dem inzwischen 56-Jährigen bescheinigen muss, immer noch ziemlich gut darin ist, mit seinen Mitmenschen vor der Kamera zu interagieren – egal, ob geplant oder spontan.

Ein Hape für alle Fälle

Für seine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, vom Schäfer bis zur Hollywood-Laiendarstellerin, ist er der "Hape", lässt sich genau so ansprechen und vermittelt dem Publikum den Eindruck, als würden sich die zwei vor der Kamera schon seit einer Ewigkeit kennen. "It was a pleasure driving with you", verabschiedet er sich von seinem maltesischen Kutscher. Und bei seinem Einsatz im Vatikan nächste Woche unterhält er sich selbstverständlich auf Italienisch mit dem Besitzer der Lieblingspizzeria des Papstes, während dieser ihm ein echtes Franziskus-Baguette belegt (Käse, Schinken, geschmolzene Butter). In der Waffenkammer der Schweizer Garde hat er schneller einen der schweren Helme auf als der diensthabende Gardist gucken kann. Er fährt winkend im Papamobil-Smart durch die Stadt, mopst Myrrhe-Desinfektionsmittel beim Hofschneider und lässt sich bei einer Audienz fast vom echten Papst zuwinken, dem er Wein aus Boppard mitgebracht hat.

Hape und die 7 Zwergstaaten © RTL Ein Papst-Sandwich, bitte! Kerkeling (Mitte) auf den kulinarischen Spuren des amtierenden Kirchenoberhaupts.

Wenn mal was schief läuft, baut Kerkeling es einfach mit ein. Als es bei seinem für die Kamera geplanten Gang über die Straße vorm Opernhaus Teatro Astra auf Gozo im Hintergrund laut wird, erklärt er: "Wir haben die Straße gesperrt, deshalb hupen die." Und als beim Käsebrotbacken in einer traditionellen Bäckerei jemand gebückt durchs Bild huscht, schüttelt er den Kopf und motzt: "Wie ich den Regisseur kenne, bleibt das eh drin."

Es ist eine wunderbare Reihe, die genau zur rechten Zeit kommt, und sich eines eigentlich uralten TV-Rezepts bedient, das in den vergangenen Jahren – unberechtigterweise – etwas in Vergessenheit geraten ist: dem Kennenlernen eines Lands über seine Leute; idealerweise mit einem Reporter oder Host, dem das Publikum das persönliche Interesse daran auch abnimmt.

Gerd Ruge hat's vorgemacht

Dabei hat das Genre des Personality-getriebenen Fernwehfernsehens hierzulande eigentlich eine lange Tradition. Weniger vom Entertainment kommend (so wie Kerkeling), sondern ganz klassisch von journalistischer Neugierde motiviert, hat Gerd Ruge über mehrere Jahrzehnte auf seinen Reisen durch Russland, China oder in die USA eigentlich nichts anderes gemacht. Als er vor wenigen Wochen im Alter von 93 Jahren verstarb, würdigten ihn die Nachrufe als Korrespondenten, Reporterlegende und – was ich am schönsten fand: "Weltreisenden".

Auf seinen Touren hat er gezeigt, wie die Menschen am anderen Ende der Welt leben, wohnen, denken – indem er ihnen einfach ein blaues WDR-Mikrofon unter die Nase gehalten und sie gefragt hat.

Gerd Ruge in Sommer am Colorado © Screenshot WDR Gerd Ruge in "Sommer am Colorado" (2007): Mit roter Schwimmweste und blauem WDR-Mikrofon einfach mal die Leute fragen.

"Sommer am Colorado", das zur Reportagereihe "Die Rockies" gehört (und aktuell in der ARD Mediathek zu sehen ist), startet mit – dem damals auch schon fast 80-Jährigen – Ruge beim Schlauchboot-Rafting ("Ich bin teils Ballast, teils erschrockener Tourist"), bevor es auf einen Rundreise entlang der südlichen Ausläufer der Rocky Mountains geht, wo Ruge mit seinem Team einfach jede und jeden angequatscht hat, die bzw. der ihm potenziell interessant schien: Wildpferde zähmende Strafgefangene, Biofleisch verkaufende Deutsch-Professoren, Kneipenbesitzerinnen in The Middle of Nowhere. Zum Schluss hat man eine ungefähre Vorstellung davon, wie (unterschiedlich) die Menschen in der Gegend ticken.

Eine zu lange vernachlässigte Tradition

Diese Art von Fernsehen war ursprünglich einmal Steckenpferd der öffentlich-rechtlichen Sender: "Die Rockies" lief Ende 2006 / Anfang 2007 in drei Teilen – unter Mitwirkung der Reportage-Koryphäen Ruge, Klaus Bednarz und Fritz Pleitgen – zwischen den Jahren auf prominentem Sendeplätzen um 21.45 Uhr (und erreichte Millionen von Zuschauerinnen und Zuschauern). Beim WDR gab es mal kurz Anstalten, einen kerkelinghafteren Anchluss zu wagen, als Axel Prahl 2012 mit einem Riesenspaß für ein "Wunderschön! Extra" (von dem bloß eine DVD geblieben ist) durch Lissabon und Umgebung tourte.

Aber diese Tradition wird schon seit längerer Zeit vernachlässigt. (Wahrscheinlich, weil die Sendeplätze für die vielen austauschbaren Kroatien- und Istanbul-Krimis benötigt werden, in denen immer alle perfekt Deutsch sprechen, um dem Publikum keine Umstände zu machen.)

Dass sie immer noch funktioniert, scheint die ARD ziemlich überrascht zu haben, als sie im vergangenen Jahr mit großem Erfolg "Trump, meine amerikanische Familie und ich" zeigte. Für die Reportage hatte sich "Tagesthemen"-Moderator Ingo Zamperoni über die Familie seiner aus den USA stammenden Frau dem Phänomen genähert, dass so viele Amerikanerinnen und Amerikaner Trump die Treue hielten – all seiner demonstrativen Unzulänglichkeiten zum Trotz. Das funktionierte auch deshalb so gut, "weil er als Person einen emotionalen Zugang zum diesem Thema gefunden hat, der einen persönlichen Blickwinkel ermöglicht", stellte ARD-Programmdiektorin Christine Strobl nachher fest. Gelernt hat die ARD daraus – nichts. Zumindest fehlen im Programm bislang Reportagen, die an diese Erkenntnis anknüpfen würden.

Umso begrüßenswerter ist es, dass andere Anbieter Lust haben, dem Genre neues Leben einzuhauchen. Das gilt nicht nur für Kerkeling bei Vox, sondern auch für Sternekoch Tim Raue, der im Auftrag des Telekom-Streamingdiensts Magenta TV zur kulinarischen Weiterbildung um die Welt gejettet ist. Das Ergebnis heißt "Herr Raue reist! So schmeckt die Welt" und wird aktuell leider nur scheibchenweise veröffentlicht: mit einer Doppelfolge pro Monat, bis ins nächste Frühjahr hinein.

Mit glänzenden Augen über den Markt

Die ersten beiden Ausgaben vermitteln aber schon mal einen guten Eindruck, was man als Zuschauerin bzw. Zuschauer erwarten kann: einen großen Kreuzberger Jungen, der mit glänzenden Augen über Straßen, Märkte und durch die Küchen der Sternerestaurants von Metropolen wie Istanbul und New Orleans läuft, um sich einen Eindruck von der jeweiligen Landesküche zu verschaffen – und natürlich, um zu kosten: das Sandwich mit in Darm gewickelten Schafsinnereien von einem türkischen Straßenstand genau wie die Neueinterpretatioin traditioneller Bohneneintöpfe in Louisiana.

Herr Raue reist! So schmeckt die Welt © Magenta TV / Katy Wagner Frisch gefangener Flusskrebs: Tim Raue auf einer Crawfrish Farm bei New Orleans.

Auch Raue hat sichtbar Bock darauf, Neues kennen- und schmecken zu lernen. Er kommt bei der Flusskrebsjagd im Amphibienfahrzeug ins Schwitzen, stellt sich mit Locals in deren Küche, um gemeinsam ihre Lieblingsgerichte zu kochen, und lässt sich von Kollegen zeigen, wie sie die Spezialitäten für ihre Gäste anrichten.

"Her Raue reist!" ist unübersehbar von zahlreichen Vorbildern – vor allem aus dem englischsprachigen Raum – inspiriert; und wer bisher schon regelmäßig Food-Reportagereihen wie "Somebody Feed Phil" über den Streaming-Dienst seiner Wahl ansieht, weiß ziemlich genau, was ihn erwartet, wenn Raue auf die "Parkway Bakery" in New Orleans zusteuert, um sich dort ein rie-hie-hiesiges "Poor Boys"-Sandwich belegen zu lassen. Aber das macht nichts, weil man ihm die Faszination abnimmt. Auch wenn die Begeisterung ("When I eat, I see pictures") manchmal derart überhand nimmt, dass sich selbst die auf oberflächliche Freundlichkeitsstandards spezialisierten Amerikaner ab und an über den lustigen Deutschen wundern, der wirkt, als hätte jemand einen Sechsjährigen in einer Süßwarenfabrik ausgesetzt: hellauf begeistert.

Beim Essen über Gott und die Welt quatschen

Die offensichtlichste Inspirationsquelle für die Magenta-TV-Reihe ist freilich "Parts Unknown", in der Sternekoch und Straßenköter Anthony Bourdain bis zu seinem – viel zu frühen – Tod 2018 für CNN in zwölf Staffeln quer durch die Welt gereist ist, um mit Einheimischen gemeinsam zu kochen, sich an einen Tisch zu setzen und beim Essen über Gott, die Welt und Politik zu quatschen und so ihre Rituale und Präferenzen verstehen zu lernen. (Hierzulande unverständlicherweise nirgendwo regulär anseh- oder abrufbar.)

Davon ist "Herr Raue reist!", von der Telekom grotesk falsch als "Kochshow" verkauft, noch ein gutes Stück entfernt, weil sich die Reportagen – bislang – vor allem auf die Kulinarik konzentrieren und alles andere allenfalls am Rande streifen; auch Kerkeling umschifft kritischere Themen in seiner Vox-Reihe eher, streift sie aber zumindest. Vielleicht lässt sich das auch als schöne Herausforderung für mögliche Fortsetzungen begreifen.

Oder wie's Gerd Ruge am Ende seiner 14 Jahre alten Reportage über die südlichen Rocky Mountains zusammenfasst: "Das Land der Felsenberge kennt keine Reiseführer für alle. Da kann sich jeder die Welt suchen, die zu ihm passt."

Und damit: zurück nach Köln.

Vox zeigt neue Episoden von "Hape und die 7 Zwergstaaten" sonntags um 19.15 Uhr und bei RTL+. "Herr Raue reist!" läuft in der Megathek von Magenta TV; die nächsten Doppelfolgen werden am 23. Dezember (Sizilien) und am 27. Januar (Mexico City) freigeschaltet.