Um zu erforschen, wie selektiv unsere Wahrnehmung funktionieren kann, ließen die Wissenschaftler Christopher Chabris und Daniel Simons die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Versuchs im Jahr 1999 das Video eines Basketballspiels ansehen und fragten: Wieviele Pässe spielt sich die in weiß gekleidete Mannschaft darin zu? Die Hälfte der Leute war nachher so sehr aufs Zählen konzentriert, dass sie komplett verpasst hat, wie mitten im Spiel ein Typ im Gorillakostüm durchs Bild latscht.

Der "Invisible Gorilla"-Test gehört (neben Harald Glööckler) vielleicht zu den populärsten Aufmerksamkeitsexperimenten unserer Zeit. Gut zwanzig Jahre später hat ZDFneo gerade ausprobiert, was passiert, wenn man Chabris und Simons auf den Kopf stellt – und seinen Probandinnen und Probanden (im übertragenen Sinn) so lange Gorillas vorführt, bis denen das zu affig wird.

Das Ergebnis lautet: definitiv in unter sechs Folgen "MaiThink X – Die Show".

Der Babelfisch ihrer Generation

Aber immer der Reihe nach – beziehungsweise: Höchste Zeit, sich ein bisschen reinzunerden. In diesem Jahr ist die vielfach ausgezeichnete Wissenschaftsjournalistin und erfolgreiche YouTuberin Mai Thi Nguyen-Kim vom WDR zum ZDF gewechselt. Dort gehört sie nun zum "Terra X"-Team und hat ihre eigene Sendung bei ZDFneo, über das sie sich gleich zum Start lustig machte: „Bei ZDFneo schaut ja eh niemand zu.“ (Was freilich nur dann stimmt, wenn da gerade kein Krimi oder keine "Bares für Rares"-Wiederholung läuft.) Vor allem aber formulierte sie den Anspruch, ihrem neuen TV-Publikum gesellschaftlich und politisch relevante Themen einordnen zu wollen. Und: "Für'n bisschen Quatsch“ sei auch Zeit. Leider hat sie mit beidem Wort gehalten.

Dabei geht es nicht um Nguyen-Kims unbestreitbare Fähigkeit, komplexe Sachverhalte so zu erklären, dass auch normalsterbliche Nichtwissenschaftler sie verstehen. Ganz im Gegenteil: Die 34-Jährige ist der Babelfisch ihrer Generation, Übersetzerin zwischen einer in der Außenkommunikation manchmal völlig hilflos wirkenden Wissenschaft und dem Rest der Welt. Nguyen-Kim spricht die Sprachen beider, und diese Fähigkeit hat sie völlig zurecht zu einer der populärsten rationalen Stimmen einer zunehmend von Irrationalität geprägten Zeit werden lassen. Die Preise, mit denen sie dafür ausgezeichnet wurde, hat die "Journalistin des Jahres 2020" allesamt verdient.

"MaiThink X – Die Show" versucht darauf aufzubauen und eine Art aufgebohrtes "maiLab" (wie ihr erfolgreicher YouTube-Kanal für Funk heißt) zu sein: mit mehr Aufwand, mehr Effekten und Studiopublikum. Dabei wäre das alles gar nicht notwendig gewesen.

Die Publikumslümmel von der ersten Bank

Die zentrale Frage ist, warum man jemanden wie Nguyen-Kim, die so wahnsinnig gut daran ist, direkt in eine Kamera zum Publikum zuhause zu sprechen, während sie vor irgendeinem Regal sitzt, überhaupt auf eine Studiobühne stellen muss. Statt in eine spricht sie bei ZDFneo nun abwechselnd in mehrere Kameras und geht vor einer irre breiten Videoleinwand verloren, die selbst gerne ein bisschen der Star der Sendung wäre und bei Bedarf sehr, sehr lange deutsche Komposita einblenden kann, haha. Außerdem muss Nguyen-Kim in ihrem Erklärmarathon, der schon erschöpfend genug sein dürfte, auch noch Leute aus der ersten Reihe einbeziehen, an denen sie sonst den größten Teil der Sendung vorbeiguckt.

MaiThink X - Die Show © ZDF / Ben Knabe Suchbild! Finden Sie die Gastgeberin vor der Videowand?

"Wie heißt du? Annalena! Ne, Handy bliebt in der Tasche!", verbietet sie die Nutzung des Geräts, auf dem sie den größten Teil ihrer Fans sonst erreicht. Sie fragt: "Wie heißt du? Melanie! Bist du'n Computer?" Oder: "Wie heißt du? Maurice! Handy bleibt in der Tasche. Pass auf!"

Später hakt sie zwischen zwei Erklärpassagen nach wie ein Clown im Kinderzirkus: "Annalena, was machen wir jetzt?", "Maurice, haste Zeit?", "Melanie, was ist so deine Lieblings-Social-Media-App?", "Philipp, du und ich – wir sind frustriert", "Ich seh schon, Maurice, du weißt das alles schon", "Das Leben ist verdammt komplex – oder, Annalena?". Und nichts davon wirkt spontan oder notwendig, sondern bloß: wie eine erzwungene Auflockerung, die ohne die unter 2G+-Bedingungen aufgezeichnete Gruppenbespaßung gar nicht notwendig gewesen wäre.

Richtig gute Erklär-Recherchen

Dazu kommt der Glaube der Redaktion, komplizierte oder ernste Themen zwanghaft mit lustigen Filmen, Gaststar-Auftritten oder visuellen Gags einwattieren zu müssen. Okay: Wenn Thomas Anders beim Gemüseschnippeln erklärt, wie der BMI funktioniert, oder Gundula Gause aus dem "heute journal" rausläuft, um in den Fluren des Mainzer Sendezentrums Vor- und Nachteile des EU-Bio-Siegels zu schildern, ist das eine hübsche Abwechslung. (Obwohl ich Nguyen-Kim genauso gerne dabei zugehört hätte.) Aber viele andere Pointen – die Check-24-Werbeparodie, "Wer wird Maionär?", der Klamauk über "Kettensitzer", das von der Titanic gerammte Kackemoji – sind überflüssig oder lenken vom eigentlichen Thema ab.

Vor allem aber sind sie Ausdruck einer Überzeugung, dass alles, was ein klitzekleines bisschen anstrengender zu erklären ist, maximal aufgerockt werden muss, damit die Leute nicht abschalten oder wegnicken. (Was, genauer betrachtet, eine Verwechslung von Korrelation und Kausalität sein dürfte.)

Es ist auch deshalb schade, weil fast alle Schwerpunkte, die sich die erste Staffel von "MaiThink X – Die Show" vorgenommen hat, interessant und wichtig sind: auf den Punkt erklärt zu kriegen, warum Wissenschaft keine Demokratie ist, wie es Politiker während der Corona-Pandemie immer wieder suggeriert haben; zu lernen, wo das Anthroposophie-Geschwurbel des Bio-Anbauverbands Demeter die Grenzen der Nachweisbarkeit sprengt; zu verstehen, warum Künstliche Intelligenz keine fairen Entscheidungen treffen kann, wenn sie bloß die Vorurteile menschengemachter Datensätze reproduziert – das leistet so keine andere Sendung im deutschen Fernsehen.

Misstrauensvotum gegen das eigene Publikum

Dass Nguyen-Kim manchmal sehr lange Anlauf nimmt, um die Entstehung von Studien zu erklären, die sie nachher lustvoll als "methodisch superschwach" enttarnen kann, und manche Sachverhalte sich auch in einem einzigen Satz zusammenfassen ließen, anstatt in fünfeinhalbminütigen Erklärirrgärten (Beweismittel 1: Kompostierung ist für die Verbesserung des Humus im Demeter-Ökolandbau offensichtlich wichtiger als angeblich bio-dynamische Präparate) – geschenkt.

Denn in den allermeisten Fällen helfen die Einordnungen der Gastgeberin, mit Irrtümern und Vorteilen aufzuräumen, neue Perspektiven aufzuzeigen und ihr Publikum schlauer zu machen – sofern es sich dagegen zu wehren versteht, dass ihm zwischendurch ständig ein riesiger Affe durch die Konzentration geschickt wird.

MaiThink X - Die Show © ZDF / Ben Knabe Der Babelfisch ihrer Generation: Mai Thi Nguyen-Kim erklärt wissenschaftluche Zusammenhänge für alle.

In ihren guten Momenten ist "MaiThink X – Die Show" eine Einladung, Zusammenhänge zu verstehen, über die man sich bislang zu wenig Gedanken gemacht hat. Und in ihren schlechten ein Misstrauensvotum gegen das eigene Publikum, dem man offensichtlich die Aufmerksamkeitsspanne eines Lemmings zutraut, wenn es nicht ständig ein neues Zückerchen hingeworfen kriegt. Mit maximalem Aufwand scheitert das ZDFneo-Format so an etwas, das seiner Hauptprotagonistin bei YouTube regelmäßig völlig mühelos gelingt – und zwar im Zweifel lediglich unter Zuhilfenahme von etwas Klebeband, ein paar Scheiben Käse und einer Handvoll Reis.

Was auch ein bisschen der Beleg dafür sein könnte, dass die Langzeitmasche (LANGZEIT!) der produzierenden Bildundtonfabrik – eine visuell maximal aufwändig inszenierte Dauerironie – an ihre Grenzen stößt, sobald sie sich aus dem erprobten popkulturell-politischen Rahmen heraus bewegt.

Besser ohne den Amthor-Gag

Oder, anders gesagt: Die "MaiThink X"-Episode zu medizinischen Hintergründen, politischem Umgang und gesellschaftlicher Tabuisierung von Schwangerschaftsabbrüchen wäre um ein Vielfaches besser ohne Witze über Jens Spahn, Beatrix von Storch und Philipp Amthor; ohne ironisch gemeinten Rausschmiss aufdringlicher Ablenk-Clowns; und ganz unbedingt, ohne dass Catcher aus der Rubrik "World Wrestling Explanation" beim Schwitzkastenaustausch die Paragrafen 218 und 219a aufgeigen, weil es sonst "bisschen trocken" wäre. "Medizinisch sachliche Aufklärung ist eine gute Sache", plädiert Nguyen-Kim irgendwann mittendrin – und am liebsten würde man ihr zurufen, wie recht sie damit hat.

Aber da muss schon der nächste Lacher anmoderiert werden, damit es keinesfalls zu ernst wird. Obwohl das völlig in Ordnung ginge.

Für einen hübschen Knalleffekt wirft die Sendung im Zweifel auch das zuvor Erarbeitete über Bord. Der Organchor am Ende der sechsten Episode mit Nguyen-Kim als singendem Gehirn, Bürger Lars Dietrich als Niere und Lucy von den No Angels im Uterus-Kostüm ist zweifellos ein Hingucker. Die gut gelaunte Darbietung ignoriert leider, dass die meisten Organe angesichts des im Vorfeld ausführlich beleuchteten Gesellschaftsproblems Adipositas deutlich weniger fidel drauf sein müssten als sie hier durchs Studio gesprungen sind. (Weiß ich aus eigener Erfahrung.)

"Wir haben keine Zeit, wir haben ganz viel vor – wir sind im linearen Fernsehen", beschwichtigt Nguyen-Kim am Anfang von "MaiThinX – Die Show" das frenetisch Beifall klatschende Studiopublikum, um loslegen zu können. Ich sag mal so: Mir würden schon ein paar Dinge einfallen, um dieses Manko für die gerade angekündigte zweite Staffel nächstes Jahr zu beheben.

Und damit: zurück nach Köln.

Alle Ausgaben von „MaiThinX – Die Show“ sind in der ZDF-Mediathek abrufbar. Eine alternative DWDL-Kritik zur Sendung steht hier.