Stellen Sie sich vor, das öffentlich-rechtliche Fernsehen würde Sie jeden Tag vor den Nachrichten für eine halbe Stunde in die Lebensrealität von Menschen schauen lassen, die auf demselben Kontinent leben – aber völlig anders als man selbst. Es müssten keine in Drehbücher hinein gedrechselten Morde und keine fiktionalen Krankheitsgeschichten aufgeklärt werden, zwischendurch liefen auch keine Werbespots für Arzneimittel und Konsumüberfluss. Sondern einfach: die manchmal schier unglaubliche Realität, dokumentarisch aufbereitet.

Wäre das nicht ein fantastisches Vorabendprogramm?

Ja, das wär's. Und vielleicht ist das jetzt ein kleiner Schock, wenn ich Ihnen verrate: Das gibt es schon. Jeden Werktag ab 19.40 Uhr, in Ihrem Fernsehprogramm.

Okay, zugegeben: Das hier ist ein Text über Arte – aber klicken Sie doch um Himmels Willen trotzdem nicht sofort gleich wieder weg! Es gibt nämlich trotzdem jede Menge Action, ein bisschen Krimi und haufenweise Gründe dafür, warum der Alltag oft dramatischer und fesselnder ist als alles, was sich ARD und ZDF so für ihr "Werberahmenprogramm" am frühen Abend ausdenken. Seit fünf Jahren hat Arte fast 850 Belege dafür im Programm gesammelt, und zwar mit der werktäglichen Reportagereihe "Re:", die exakt so verkopft und unverständlich übertitelt ist, wie man das von einem deutsch-französischen Kultursender, der an diesem Montag 30 Jahre alt wird, erwarten würde.

Kabeljauzungen und Demokratieverteidigung

Das immerhin ist eine gute Gelegenheit, ihm noch nachträglich für "Re:" zu gratulieren, das bereits Ende März seinen 5. Geburtstag feiern durfte. Und nach wie vor fünfmal pro Woche ein zentrales Versprechen einzulösen versucht: "Wie wir ticken. Reportagen aus Europa", steht über der Sendungsübersicht im Netz. Und wer zwei Wochen konzentriert zusieht, merkt erstmal, welche Spannbreite dieses "Wir" wirklich hat.

Es reicht von den Kindern in Ölhosen, die im nördlichsten Norwegen aus Tradition Zungen aus Kabeljauköpfen schneiden, um der nach wie vor elementar wichtigen Fischindustrie Tribut zu zollen (und sich eine höllisch gute Taschengeldaufbesserung zu verdienen, denn: "Fisch stinkt nicht, er riecht nach Geld") …

… über junge deutsche Frauen, die den Jagdschein machen, weil sie sich zuvor intensiv mit den Zusammenhängen zwischen Jagd, Klima und Naturschutz und nachhaltigem Fleischkonsum beschäftigt haben, bevor das geschossene Wild "aufgebrochen und zerwirkt" wird …

… bis zu Oppositionellen und Journalistinnen in Serbien, wo die Anhänger des wiedergewählten Ministerpräsidenten zunehmend Druck auf all jene ausüben, die sich nicht der nationalpopulistischen Regierungspartei anschließen wollen und sich gegen die Vereinnahmung von Medien und Wirtschaft stemmen: "Ich bin bereit, mein Leben für ein besseres Serbien zu riskieren."

Heute zeitlos, morgen brandaktuell

"Re:" demonstriert am laufenden Band, was Europa alles gemeinsam hat bzw. was die Menschen in den unterschiedlichen Regionen voneinander trennt: Werte und Probleme, Traditionen und Vorurteile. Die Reihe ist – obwohl die einzelnen Reportagen von unterschiedlichen Sendern und Produktionsfirmen zugeliefert werden – im besten Sinne des Genres altmodisch: Es gibt keine durchs Bild laufenden Presenter, die sich dem Publikum aufdrängen, um Geschichten durch ihre Augen zu erzählen, und keine sich grafisch durchs Bild mitbewegenden 3D-Titel, sondern einfach: Protagonistinnen und Protagonisten, die vor der Kamera aus ihrem Leben erzählen und zuvor ihrem Publikum einmal direkt in die Augen sehen, um sie auf der neben ihnen eingeblendeten Europakarte zu verorten.

Durch die werktägliche Ausstrahlung kann "Re:" sich herausnehmen, abwechselnd zeitlos und aktuell zu sein, kann über langfristige Entwicklungen und gegenwärtige Konflikte berichten – ohne eine Auswahl treffen zu müssen, was wichtiger ist. Weil das angesichts so vieler verschiedener Lebensrealitäten auf einem Kontinent ohnehin kaum möglich ist.

Auch wenn sich natürlich wiederkehrende Schwerpunkte abzeichnen: Immer wieder geht es um Menschen, die sich Gedanken darüber machen, wie sie künftig leben wollen: um Sternköche aus Frankreich, die sich zum Ziel gesetzt haben, ihren Landsleuten den Verzehr proteinreicher Insekten schmackhaft zu machen, um die Ernährung der Zukunft ressourcenschonender zu machen; und um deutsche Öko-Imker, die in Ägypten versuchen, eine seltene Bienenart zu retten, die resistent gegen schädliche Umwelteinflüsse wäre, für den internationalen Honigmarkt aber zu wenig Ertrag abliefert.

Über die Grenzen des Kontinents hinweg

Es geht um die Toleranz gegenüber Minderheiten, um Engagierte, die an deutschen Schulen erklären, was es bedeutet, queer zu sein, um Stigmatisierung und Mobbing zu vermeiden. Und um solche, die aus ihrer Heimat Syrien in die Türkei geflohen sind, wo sie sich mit einem wachsenden Rassismus der Einheimischen konfrontiert sehen – aber trotzdem beten, nicht zurück geschickt zu werden.

Natürlich geht es – wie in den kommenden Tagen – auch um den Krieg in der Ukraine und die Auswirkungen auf die Schicksale Einzelner: ein deutsches Paar, das sich nach dem Kriegsausbruch bis Kiew durchschlägt, um dort sein von einer Leihmutter ausgetragenes Baby zu finden (und später von einem mit Maschinengewehr bewaffneten Chefarzt in die Arme gegeben zu bekommen). Oder um das Ensemble der Oper in Lwiw, das dem Krieg mit Kunst trotzdem will, und dessen wegen der Ausgangssperre ohnehin gekürzte Vorstellungen regelmäßig vom Sirenengeheul unterbrochen werden, das Auftretende und Zuschauende gemeinsam in den Luftschutzbunker führt: "Unsere Waffe ist die Kultur."

Dass die Reihe immer wieder über die Grenzen hinweg blickt – nach Kanada, Nordafrika usw. – ist dem Bewusstsein geschuldet, dass Europa nicht als abgeschlossener Lebensraum existieren kann, und es sich lohnt, von den Problemlösungen anderer Länder inspiriert zu werden.

Menschen in den Konflikten unserer Zeit

Die vielleicht größte Stärke von "Re:" ist aber, dass die Reihe Menschen zeigt, die in den Nachrichten sonst so gut wie nie vorkommen, sich aber – auf ganz unterschiedliche Weise – in den Konflikten unserer Zeit behaupten müssen. Und zwar ohne für die eine oder die andere Seite Partei zu ergreifen. Der Rassismus der türkischen Ladenbesitzer, die die Xenophobie des Bürgermeisters ihrer Stadt unterstützen, wird nicht verurteilt – aber mit dem Elend der Lehmhüttenbehausungen am Rande der Stadt kontrastiert, wo syrische Familien nicht so leicht beim Tee über den Niedergang lamentieren können, sondern den plötzlichen Tod ihrer an Lungenentzündung verstorbenen Neugeborenen verkraften müssen.

Und im spanischen Cáceres, wo ein ausländisches Minenunternehmen das in einem Naturreservat entdeckte Lithiumvorkommen erschließen will, kommen erst der Olivenölproduzent und die Bürgerinitiative zu Wort, die nicht wollen, dass ihr Lebensraum einer riesigen Fabrik weichen muss; und anschließend die Befürworter, die ein weiteres Ausbluten der Region befürchten und sich ärgern, dass die Naturschützer nicht bereit sind, über umweltvertäglichere Alternativplanungen zu diskutieren.

Die in sechs Sprachen ansehbaren Reportagen sind eindrucksvoller Beweis dafür, wie sehr es sich lohnt, die dokumentarische Vielfalt Europas nicht in wöchentliche Reportagemagazine am Programmrand auszulagern, sondern sie auf einen prominenten Platz in die Mitte des (fast) täglichen Sendeablaufs zu holen.

Aber halt auch dafür, dass die Gegenwart, in der wir uns bewegen, manchmal ganz schön schwer verdaulich ist, wenn man sie durch die Augen Betroffener gezeigt kriegt. Genau das macht gutes Reportagefernsehen ja seit jeher aus. Deshalb: Alles Gute zum Geburtstag nachträglich, "Re:"!

Und damit: zurück nach Köln.

"Re:" läuft montags bis freitags um 19.40 Uhr bei Arte: die im Text erwähnten Reportagen lassen sich zudem in der Arte Mediathek ansehen.