Stellen Sie sich vor, die ARD würde beschließen, den sonntäglichen „Tatort“ (und damit: dessen Aufklärung) bis kurz nach 23 Uhr zu verlängern. In der dazugehörigen Pressemeldung stünde, dass sich die Zuschauer:innen künftig auf „noch mehr Krimigenuss“ freuen könnten, die ausgedehnte Sendezeit „völlig neue Erzählperspektiven“ ermögliche und Charaktere „sehr viel mehr Raum zur Entwicklung“ lasse. Da wäre vielleicht was los auf Twitter! Und es würde keine acht Sekunden dauern, bis sich die ersten beschweren, dass sie Montag früh aber arbeiten müssen. (Zurecht.)

Was für Krimis geradezu absurd klingt, ist bei Unterhaltungsshows seit Jahren gang und gäbe: Gesendet wird, bis die Nachtigall draußen zu trällern beginnt.

Vor der Jahrtausendwende ward es nur wenigen Moderatoren vergönnt und verziehen, die ihnen eingeräumte Sendezeit über das in der Programmzeitschrift vermerkte Ende hinaus zu dehnen – und ihren Arbeitgeber einen entsprechenden Vermerk für die Verzögerung nachfolgender Programme per Laufband einblenden zu lassen. Und als Stefan Raab bei ProSieben später die Werbepausen einer nach ihm benannten Liveshow nutzte, um für den nächsten Wettbewerb mit dem Hubschrauber ins nahegelegene Freibad zu fliegen, gehörte dieser Bruch sämtlicher Überziehungsrekorde, noch zu den Ausnahmen.

Alles nur noch Marathon

Inzwischen sind Shows von vornherein als – im wahrsten Sinne des Wortes – abendfüllende Veranstaltungen geplant. Mag in der Blockbuster-Wiederholung der Konkurrenz die Schlacht um Mittelerde längst geschlagen sein (oder zumindest auf die kommende Woche vertagt), laufen sich Kai Pflaume, Alexander Bommes, Elton & Co. gerade erst warm – und zwar nicht mehr nur am Wochenende, sondern zunehmend auch an normalen Werktagen.

Private und öffentlich-rechtliche Sender stehen sich dabei kaum in etwas nach: Anfang des Monats brauchte „Gefragt – gejagt: Der Quizmarathon“ am Samstagabend im Ersten bis 23.25 Uhr, um an die nächtlichen „Tagesthemen“ zu übergeben; bei „Denn Sie wissen nicht, was passiert“ auf RTL lief da immer noch das Finale. Selbiges dauerte bei „Wer stiehlt mir die Show“ auf ProSieben in der vergangenen Woche ebenfalls bis halb zwölf – an einem gewöhnlichen Dienstag. Sat.1 entließ die Zuschauer:innen von Jörg Pilawa „Zurück in die Schule“ einen Tag später immerhin schon gegen 23 Uhr. Beim „Sommerhaus der Stars“-Start von RTL gab’s dank Unterbrechung durch „RTL direkt“ zumindest ein kurzes Päuschen, bevor der Reality-Wahnsinn anschließend noch eine Stunde bis 23.35 Uhr in die Verlängerung ging. Und als Vox neulich „Die leckerste Idee Deutschlands“ fortsetzte, war dafür der komplette Montagabend bis Mitternacht geblockt.

Und, jede Wette: Wenn Sat.1 oder ProSieben demnächst dank des angekündigten Rechterwebs eine deutsche Version des britischen Show-Hits „The 1% Club“ starten, dann wird die eher nicht wie das ITV-Original 45 Nettominuten dauern.

Tempo, wir brauchen Tempo

Anlässlich der Rückkehr ihrer „100.000 Mark Show“ merkte Moderatorin Ulla Kock am Brink im DWDL-Interview gerade an, der Kern des in den 90ern etablierten Formats bestehe „aus Dramaturgie, Timing und Tempo“. In der Neuauflage wurde die erinnerte „Verdichtung“ früherer Tage dann aber von allen Beteiligten geflissentlich ignoriert – und die Sendedauer weit über die frühere hinaus gedehnt: bis 23.30 Uhr. Um u.a. sehr, sehr ausführlich zu zeigen, wie drei Kandidatenpaare im Astronautentrainer festgeschnallt dieselben gemalten Begriffe errieten: Auto, Sonne, Kamera, Koffer, Nasenhaar, Rakete, Leiter, Haus, Kaktus, Hose, Uhr, Hand, schnarch.

Für die Sender ist das komfortabel, weil es sich rechnet, aus dem ohnehin veranstalteten Aufwand noch ein, zwei Stündchen mehr Sendezeit herauszuholen, die nicht anderweitig gefüllt werden müssen. Zudem argumentieren die Programmverantwortlichen, damit den Sehgewohnheiten des Publikums zu entsprechen, das sich daran gewöhnt habe, im Laufe des Abends durch die Programme zu zappen und Shows nur noch in Etappen anzusehen.

Dabei ignoriert das Dehntertainment – ausgerechnet im sonst so regelversessenen Deutschland – nicht nur, dass Tempo sehr wohl zentrales Element eines gut funktionierenden TV-Formats sein kann. Es sorgt auch dafür, dass sich in der Unterhaltung vorrangig Shows durchsetzen, in die möglichst unkompliziert rein- und wieder rausgeschaltet werden kann, ohne dem Publikum das Gefühl zu geben, es würde zwischendurch etwas verpassen.

Seltenes Gefühl des Nichtverpassenwollens

Diese Ausdauer ist an sich nichts Verwerfliches – und sie wird ja auch von einem Teil des Publikums dankend angenommen. Sie verhindert aber, dass sich so etwas wie ein durchlaufender Spannungsbogen etabliert, der vom Anfang zum Ende einer Sendung reicht. Das wiederum fördert Formate, bei denen es mehrheitlich egal ist, wie sie ausgehen – weil ein Großteil der Zuschauer:innen es ohnehin nicht mitkriegt, wenn die Nachtruhe lange vor Sendeschluss einsetzt.

„Schlag den Raab“ mag die letzte Ausnahme dieser Regel gewesen sein, weil es schon wegen Raabs Ehrgeiz eben doch zählte, ob sich der Gastgeber gegen den oder die Herausforderer:in des Abends durchsetzte – erst recht, wenn die bzw. der besonders (un)sympathisch war.

Keine Ahnung, wie es Ihnen geht, aber: Dieses Gefühl des Nichtverpassenwollens hab ich inzwischen nur noch selten. Selbst beim ProSieben-Hit „Masked Singer“, der ja komplett auf den Überraschungseffekt am Ende ausgelegt ist, überleg ich’s mir inzwischen dreimal, den kompletten Samstagabend um die Ohren zu hauen, wenn die Belohnung zum Schluss daraus bestehen könnte, dass sich Cherno Jobatey aus einem Möwenkostüm schält.

Und wieso sollte man in Gameshows mit Kandidat:innen fiebern, wenn man nach nach Vorrunde, Wertbepausen und Finale samt Fluch-der-Karibik-Kletterabenteuer, Langem Heißem Draht und Wassersäule ohnehin nicht mehr dabei ist, wie der erspielte Zahlen-Code in den Tresor mit dem Geldgewinn eingegeben wird, um zu sehen, ob er sich tatsächlich öffnet?

Fernsehen als Nebenbeimedium

Es mag sein, dass die Sender damit den Sehgewohnheiten einer Mehrheit entsprechen, die ohnehin darauf eingestellt ist, den Fernsehabend mit regelmäßigem Daumensport auf der Fernbedienung zu verbringen. Zugleich stoßen sie damit aber alle vor den Kopf, die sich gezielt unterhalten lassen wollen. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern birgt auch das Risiko, einen Teil der Zuschauer:innen ganz zu verlieren, wenn die keine Lust auf Endlos-Entertainment hat – zumal die allerwenigsten sagen werden: Ich freu mich schon drauf, heute mal das erste Drittel von „Wer stiehlt mir die Show?“ anzusehen.

Es fördert außerdem die Nutzung des Fernsehens als Nebenbeimedium, die nicht in dessen Interesse liegen kann, weil sich damit kaum noch bewusst getroffene Programmentscheidungen und Einschaltgewohnheiten etablieren lassen.

Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass Shows nicht trotzdem fesselnd sein können, wenn sie bis Mitternacht oder darüber hinaus dauern. Dennoch würde ich den Programmmacher:innen den Mut und die Entspanntheit wünschen, öfter auch Shows zu testen, bei denen man als Zuschauer:in so gut unterhalten wird, dass man während des Abspanns mal nicht denkt: Oh Gott, schon so spät? Sondern: Was, schon vorbei?

Und damit: zurück nach Köln.