Wer seinen Heimatplaneten begreifen will, muss sich als Erdbewohner:in eigentlich nur zwei relevante Meilensteine der Entwicklung merken: das Zerbrechen des Urkontinents Pangaea vor mehr als 200 Millionen Jahren. Und den Start der ZDF-Dokureihe "Terra X" im Jahr 1982. Der Rest erklärt sich quasi von selbst.

Um trotzdem erkenntnisfördernd ins Geschichtsverständnis seiner Zuschauer:innen einzugreifen, hat man sich in Mainz dazu entschlossen, zum 40. X-Geburtstag eine Miniserie zu produzieren, die auf den Punkt bringt, wie die Landmassen entstanden sind, auf denen wir uns heute bewegen: "Unsere Kontinente".

Eine großartige visuelle Idee

Es ist ein erwartbar bildgewaltiges Projekt geworden, das seit Mitte Oktober auf dem "Terra X"-Stammplatz im linearen Fernsehen und vorab vollständig in der Mediathek zu sehen ist; ein Ritt über die Erdoberfläche, wie es ihn so vielleicht noch nie gegeben hat, von Kanada nach Yucatan in unter drei Sekunden. Die Kamera rast über Natur- und Industrielandschaften, über Meere, Siedlungen, Städte und Steppen, und erzählt dabei, wie Erdplattenverschiebungen, Wetterphänomene und Temperaturveränderungen die Entwicklung menschlichen Lebens begünstigt oder erschwert haben. Es geht um globale Entwicklung – und ganz konkret darum, wie das Stadtbild von Baltimore strukturellen Rassismus befördert, um Bedeutung und Besonderheit des mexikanischen Totentags, um den Elfenglauben auf Island und die Dimensionen des Reisanbaus in Südostasien.

Dazu greift sich jede der insgesamt sechs Episoden besondere Volksgruppen oder Gemeinschaften heraus, erläutert ihr Zusammenleben mit der sie umgebenden Natur – und blickt ihren Vertreter:innen, den Frauen und Männern, dabei mit der Kamera in ihre lachenden Gesichter, was eine ganz wunderbare visuelle Idee ist.

Leider hat das der Redaktion für ihr Mammutvorhaben aber nicht ausgereicht.

Nachgezeichnet und zusatzanimiert

Deshalb gibt es dazu auch "fotorealistische 3-D-Animationen" als "Zeitreise-Tool", und "Graphic Novels" müssen für "Coffee-Table-Book-Ästhetik" sorgen. Alles wird ständig nachgezeichnet und zusatzanimiert, Fakten werden teilweise in einzelne Sätzen gestopft, um sie noch unterzubringen, bevor es weitergeht. Und irgendwann ist das alles – ein bisschen viel.

(Es passt aber natürlich super zum ähnlich überfrachteten Vorspann der Reihe, in dem rasende Flugsaurier vor brüllendem Löwen den Blick aufs dahinter aus den Bergen marschierende T-Rex-Skelett freigeben, bevor das auf Wellen vor der Großstadt schwankende Wikingerschiff vom Propellerflugzeug überflogen und in die Polar-Action mit Eisbär geblendet wird, bis die Korallen für den durchs All schwebenden Astronauten Platz machen.)

So nachvollziehbar der Gedanke auch sein mag, dem Publikum dank modernstem Stand der Technik möglichst vieles von dem zu visualisieren, was schier unvorstellbar scheint: "Unsere Kontinente" ist ein schönes Beispiel dafür, was passiert, wenn man's mit dem Ehrgeiz übertreibt.

Das liegt nicht nur, aber auch an dem Studio, das der Sender seinen sechs Moderator:innen gebaut hat, die jeweils einen anderen Kontinent "präsentieren" sollen. Den Auftakt machte Mitte Oktober ZDF-Erklärurgestein und Strickjackenträger Harald Lesch, als er im mit Edison Bulbs, Stehlampe, Gummistiefel und Ohrensesseln dekorierten Raum auf die sorgsam Patina-betupften Spinde zuschlenderte, um dort den Schädel eines Australopithecus africanus herauszholen, bevor er die Tür zum "Deck" daneben öffnete und in den sich unter ihm auftuenden Großen Afrikanischen Grabenbruch hinein lief, der einst die Weichen für die Entwicklung der gesamten Menschheit stellte. Ja, sehr beeindruckend – bitte nicht runterfallen.

Abspann mit Schach-Revanche

Ein paar Minuten später driftete der Fernsehprofessor in der zum Raumschiff gewordenen Wunderkammer durchs All und blickte durchs riesige Bullauge auf den sich erdwärts vollziehenden Kontinentaldrift; er ließ sich in der zentralafrikanischen Sahelzone Sand durch die Finger rinnen; studierte Karten als säße er auf einem übers Meer schwankenden Schiff (denn: "Afrika hat im wahrsten Sinne des Wortes schlechte Karten, vor allem für die Seefahrt") und lief als pensionierter Indiana-Jones-Verschnitt mit Hütchen und Windbreaker in eine sattgrüne Dschungellandschaft samt Nilpferd – tataa!: die Sahara vor 10.000 Jahren!

Terra X - Unsere Kontinente © Screenshot ZDF Harald allein im Weltall: "Terra X: Unsere Kontinente" im ZDF.

Kurz nachdem Lesch (hier geht’s zur DWDL-„Nahaufnahme“ des Astrophysikers) wegen der hinter ihm tosenden Victoria-Fälle ein bisschen lauter werden musste, blickte er aus sicherer Entfernung entspannt auf die nächtliche Skyline der Mega-Metropole Lagos, um von seiner Kollegin Mai Thi Nguyen-Kim überrascht zu werden, die zufällig auch gerade vorbei kam:

"He Harald." – "Hallo Mai. Grüß dich." – "Nicht schlecht." – "Das ist das neue Afrika: Lagos." – "Sehr, sehr schöne Aussicht hast du hier." – "Was machst du für'n Kontinent?"

Anschließend verschwanden beide für eine Schach-Revanche in den aufgestellten Ohrensesseln, während zeitgleich der Abspann lief.

Das Sahnestück eines Kontinents

Und Nguyen-Kim war bereit für – Nordamerika, denn: "Da hat die Natur schon das Sahnestück eines Kontinents erschaffen." Studio-Tür auf, Palim Palim, da isser: der Grand Canyon! Der transmexikanische Vulkangürtel sieht aus der Außerirdischen-Perspektive besonders beeindruckend aus. Regenjacke an, Kanu raus, jetzt geht's nach Kanada. Nur ganz knapp rauscht die Lok von 1889 in Richtung Große Seen am Studio vorbei. Vorm Schwemmland des Mississippi in den Südstaaten steht eiskalte Limonade in der Karaffe auf dem Tisch, Moderieren macht durstig. Bitte einmal stoßlüften und sich den Wind durch die Haare pusten lassen vorm Getreidefeld mit dem "For Sale: USA" Schild. Huch, am Horizont kündigt sich ein Tornado an!

Terra X - Unsere Kontinente © Screenshot ZDF Herzlich Willkommen zur großen "Terra X Show" – ach nee, Moment mal.

Was für ein irrer, rätselhafter, übertriebener, ablenkender Quatsch – gegen den aber offensichtlich keine bzw. keiner der Präsentator:innen Bedenken einzuwenden hatte. Dabei sind viele Auftritte so vollständig losgelöst von Logik und Nachvollziehbarkeit, dass sie schon fast slapstickhaft wirken.

Der "Terra X"-Europabeaftragte und "MrWissen2Go" Mirko Drotschmann läuft heute Abend mit Bergarbeiterhelm und leuchtender Stirnlampe ins Weltall, um von dort aus die auf der Erde markierten Kohleregionen ins Visier zu nehmen; Asien-Kollege Colin Devey schnürt sich erstmal die Wanderschuhe, um dann durchs Fenster den Himalaya anzuglotzen; und Tiefseeforscherin Antje Boetius, die im Kaikoura-Graben nur knapp einer Blauwalkollision entgeht, blickt aus der Schwerelosigkeit auf Neuseeland, um dort den tausende von Kilometern unter ihr rauschenden Wind simuliert zu kriegen.

Ein gewisser göttlicher Vibe

Gut, es hat natürlich einen gewissen göttlichen Vibe, vorm Bullauge mit der Erdkugel in der Hand zu sitzen, auf der die Passatwinde toben, wenn man das so befiehlt. Und eine innertropische Konvergenzzone direkt vor der Tür kann sicher auch irre praktisch sein, wen man wieder keinen Urlaub gebucht hat.

Fast keines der Kunststückchen mit Harry, Mai Thi und dem ZDF-Fliewatüüt ist für die Zuschauer:innen aber so verständnisfördernd, dass sie unabdingbar wäre; stattdessen wirken die allermeisten Presenter:innen irgendwann, als hätten sie zu tief in die Greenscreen geschaut, anstatt sich doch mal darüber zu beklagen, hier bloß als stichwortgebende Realitätsanreicherung benötigt zu werden.

Terra X - Unsere Kontinente © Screenshot ZDF Bisschen zu tief in die Greenscreen geschaut: Antje Boetius auf dem "Terra X"-Deck.

Besonders kurios ist, wenn Harald Lesch einräumt, noch nie in Afrika gewesen zu sein, dessen Geschichte er seinem Publikum ja näher zu bringen versucht. Und das ist ja auch kein Muss. Aber warum hat ihn sein Sender nicht einfach in ein Flugzeug gesetzt und seine Moderationen vor der echten Skyline von Lagos einsprechen lassen? Und wenn Drotschmann, die Nordlichter durch die Studiodecke beobachtend, sagt: "Hab ich noch nie in echt gesehen, will ich mir aber unbedingt mal anschauen" – wäre diese Moderation dann nicht die perfekte Gelegenheit gewesen, genau das zu machen, anstatt bloß so zu tun?

Dass die Pläne des "Terra X"-Teams nach dem anvisierten Drehstart Anfang 2020 unerwartet durch die Corona-Krise durcheinander gewirbelt wurden und Reisen erst kaum, und später nur eingeschränkt möglich waren, kann all das nur teilweise relativieren: Die Moderationen entstanden offensichtlich erst Anfang dieses Jahres – und zwar, laut Produktion (Story House), in einem "aufwendig gestaltete[n] und drehbereitete[n] Studio", das wegen des Kriegs in der Ukraine "in letzter Minute aus dem Baltikum nach Deutschland verlegt werden" musste.

Okay. Häh?

Quatschdialoge im Studioraumschiff

"Hier im Studio kann ich die Natur ganz einfach per Knopfdruck ändern", berichtet Mirko Drotschmann in der Europa-Folge nun stolz. Aber wenn "Terra X" wirklich authentisch "über die Natur und Kultur der Welt" berichten will, wäre es von Vorteil, auch die gewählten Präsentator:innen dieser Echtheit auszusetzen – anstatt sie inszenierte Quatschdialoge in Studioraumschiffen aufsagen und Fossile aus Spinden rausnehmen zu lassen, deren Rückwand entfernt wurde, um von hinten originell durchfilmen zu können.

Die "Terra X"-Geburtstagsreihe ist sehenswert, und sie wäre das noch ein bisschen mehr, hätte man sie visuell nicht so sehr überladen. Weil der Sprung durch Zeit, Raum und Elemente am Sonntagvorabend sonst schnell von der Achterbahn- zur Geisterbahnfahrt gerät.

An einer Stelle in "Unsere Kontinente" heißt es pathosverklebt: "Die Menschen hier haben gelernt, in der Vergänglichkeit das Schöne zu entdecken und mit der Erkenntnis zu leben, dass alles endet." Also: alles, außer die Greenscreen beim ZDF.

Und damit: zurück nach Köln.

"Terra X: Unsere Kontinente" läuft sonntags um 19.30 Uhr im ZDF; alle Folgen sind außerdem in der ZDF Mediathek abrufbar.