Dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nochmal zum Trendsetter würde, hätte nicht nur wegen der anhaltenden Reformdebatte vermutlich auch in den Sendern niemand mehr zu glauben gewagt; aber wenn der Teufel ein Eichhörnchen sein kann, taugen ARD und ZDF ja wohl auch als Vorreiter. Die demographische Entwicklung macht's möglich!

Das lineare Fernsehen wird älter. Und die Sender, auch die Privaten, müssen ein Stück weit mitgehen, um relevant zu bleiben – zumindest für all jene, die sich mit ihrem Bewegtbildkonsum nicht schon überwiegend ins Netz verabschiedet haben bzw. weiterhin wissen, was eine Fernbedienung ist. Und damit: Herzlich willkommen in der unglaublichen Welt der Programmstrategien! In der sich Birgit Schrowange fast botoxen lässt, selbstzweifelnde Kommissare aus beschaulichen Küstenörtchen noch mehr Leichen ziehen als ohnehin schon und die Ostsee zum Ort der Versöhnung wird!

Aber vorher erst noch: die nüchternen Fakten.

Das wird Konsequenzen haben: im Programm

RTL hat gerade angekündigt, den Fokus ab sofort noch sehr viel deutlicher auf die 14- bis 59-jährigen Zuseher:innen zu legen, als das bislang der Fall war. RTL-Deutschland-Programmgeschäftsführer Stephan Schmitter bezeichnete dieses Umdenken gegenüber DWDL.de als alternativlos – u.a. weil heute nur noch 22 Prozent des Publikums zur seit jeher ausgewiesenen Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen gehören. (Mit den bis 59-Jährigen sind es immerhin 45 Prozent.)

Ob ProSieben Sat.1 diesen Weg mitgeht, ist ungewiss. Schließlich müsste ProSieben, das mit seinem Programm nach wie vor bei den Jüngeren erfolgreich ist, bei den 14- bis 59-Jährigen große Verluste hinnehmen. (Hier erklärt der DWDL.de-Kollege Alexander Krei das ganz hervorragend.)

Egal, welche Betrachtungsweise oder Strategie sich durchsetzt: Für viele Privatsender wird die derzeitige Entwicklung Konsequenzen im Programm haben, das (ähnlich wie es sich zwischenzeitlich in den 90ern andeutete) zunehmend für ein älteres Publikum gemacht sein muss – auch, um Werbeplätze vermarkten zu können, die noch von möglichst vielen Zuschauer:innen gesehen werden.

Wie genau wird das aussehen? Konzentrieren wir uns der Einfachheit wegen doch mal auf RTL und Sat.1, die programmstrategisch im Wesentlichen zwei Möglichkeiten haben. Erstens: Eine stärkere Orientierung an Sehgewohnheiten, die das Publikum von den öffentlich-rechtlichen Sendern angewöhnt bekommen hat, und die Konzentration auf Genres, die ARD und ZDF wegen der zeitlichen Einschränkung ihrer Werbeerlaubnis nicht monetarisieren können.

Einschlafsprays, Haarsausfallmittel, Dampflokbausätze

Und zweitens: der Konkurrenz Werbekunden streitig zu machen, die sich bislang vorrangig im öffentlich-rechtlichen Vorabend wohl fühlen, den z.B. das ZDF clever zur "neuen Primetime" umdefiniert hat. Wofür allerdings auch Zielgruppen jenseits der 59 Jahre angesprochen werden müssten. Dass es die gibt, ist – aller Konzentration eines großen Teil des Werbemarkts auf Jüngere zum Trotz – unstrittig. Und zwar spätestens nach einem Blick in die Werbepausen von "Rosenheim Cops" und "WaPo Bodensee" mit all den Spots für Hörgeräte, Treppenlifts, Nahrungsergänzungsmittel, Schmerzsalben, Sofortgeldbingokarten, Einschlafsprays, Haarsausfallmittel, Dampflokbausätze und Gedächtnisfördermittel. (Aktuelle Woche.)

Dieser Anpassungsprozess hat längst begonnen. Und seine Auswirkungen lassen sich schon jetzt im Programm beobachten, vielleicht am deutlichsten bei RTL: Die strategische Neuausrichtung in Köln und das Versprechen, die Marke respektvoller und freundlicher aufzuladen, ließ sich bereits als Zeichen an die Werbeindustrie lesen, in Zukunft ein noch verlässlicherer Lieferant für positive Markenumfelder sein zu wollen. Dafür braucht es passende Inhalte.

Dass sich RTL dabei weniger an der eigenen Vergangenheit und dem Kitsch von "Ein Schloß am Wörthersee" orientiert, umso mehr aber am in Mainz erprobten Erfolgsschema, ist unübersehbar: Im vergangenen Jahr startete die Initiative, fiktionale Inhalte nicht mehr in klassischen Serienstaffeln erzählen zu wollen, sondern vorrangig in 90-minütigen Filmen, die sich zu Reihen ausweiten lassen und in regelmäßigen Abständen wieder ins Programm genommen werden können.

Endlich ein "Tödlicher Dienst-Tag"!

Ein erster Versuch mit "Balko", das nach mehrjähriger Pause reaktiviert wurde, misslang aus Quotensicht bedauerlicherweise; aber das könnte auch an der ungeschickten Programmierung in direkter Konkurrenz zum Fiction-Donnerstag im Zweiten gelegen haben (siehe Hauptstadtstudio vom März 2022). Eine "Balko"-Fortsetzung ist trotz schwacher Quoten geplant, vermutlich auf neuem Sendeplatz.

Mit dem ebenfalls zur Filmreihe umfunktionierten "Alarm für Cobra 11" geht man gerade geschickter vor, sendet dienstagabends, wenn ausnahmsweise weder im Ersten noch im Zweiten Krimizeit ist – und hatte in der zurückliegenden Woche prompt Erfolg.

Gleichzeitig versucht RTL-Fiction-Chef Hauke Bartel mehrere neue Filmreihen zu etablieren. "Einsatz in den Alpen" war im vergangenen Jahr als Action-Variante der ZDF-"Bergretter" angelegt, und konnte sich auf Anhieb nicht beim Publikum durchsetzen. Der als zeitgemäßeres "Traumschiff" positionierte "Schiffsarzt" schipperte in Doppelfolgen programmiert ebenfalls am großen Erfolg vorbei. (Wenn auch vor allem bei den Jüngeren, was ja in Kauf genommen werden könnte.) Interessant wird nun vor allem, wie sich der nächste Neustart am "Tödlichen Dienst-Tag" (RTL) schlägt: "Dünentod – Ein Nordsee-Krimi" heißt die Minireihe, die mit vorerst zwei Filmen unübersehbar das adaptiert, was öffentlich-rechtliche Wettbewerber sonst im Wochentakt vormachen.

ZDF-iger kann's nicht mehr werden

Als Mordermittler Tjark Wolf soll Hendrik Duryn an der Seite von Polizistin Femke Folkmer (Pia-Micaela Barucki) eine Reihe düsterer Mordfälle an der Nordseeküste aufklären. Schon der Auftakt "Das Grab am Strand" dürfte Krimi-Fans sehr vertraut wirken. Da ist der mit einem Ereignis aus seiner Vergangenheit ringende Profi, der im friesischen Kleinstadtnest Werlesiel (zu "De Do Do Do, De Da Da Da" von The Police) auf eine ambitionierte Streifenpolizistin trifft, die sich zu Höherem berufen fühlt. Gemeinsam sollen sie in der Gemeinde mit der eigentlich geringsten Kriminalitätsrate Norddeutschlands, na klar: einen Serienkiller überführen, der die Polizei mit seinem neusten Mord herausfordert. Alle sind irgendwie verdächtig: der Irre im Wohnwagen mit seinem Klabautermannwahn genau wie der unsympathische Brauereierbe, dem die halbe Stadt gehört und der sich schamlos an seine Mitarbeiterinnen ranmacht.

Obwohl der schusselige Hauptwachmeister darauf besteht, "hier langweilig wie immer" sein zu wollen, ist schon die nächste junge Frau in Gefahr – festgehalten in einem Keller, aus dem es kein Entrinnen gibt. Bis Polizistin Folkmer zum Schluss eine schockierende Entdeckung macht, ist doch klar.

"Das Grab am Strand" ist ein souverän gespielter, sehr gut ansehbarer, durchaus spannender Krimi voller vertrauter Stilmittel: im Sand liegt ein blutiger Turnschuh, der auf die erste Leiche hindeutet, das Abschirmzelt der Spurensicherung glänzt knallblau unterm Dünenhimmel, zwischendurch kreischen die Möwen mysteriös, der Leiter der Mordkommission macht langsam Druck, "Uns läuft die Zeit davon!", es dröhnt und geigt und stampft bedrohlich, wenn das nächste Opfer auserkoren ist, malerische Leuchttürme im Zwielicht, Schärfe-Unschärfe-Blenden, dann das furios parallel zueinander geschnittene Doppelfinale! ZDF-iger kann's eigentlich kaum werden. Und genau das wird in Köln ja auch das Ziel sein, damit die Strategie aufgeht.

Programm für alle, die "lustvoll älter werden"

Während RTL noch über die Zuversicht (und die Mittel) zu verfügen scheint, die öffentlich-rechtliche Konkurrenz mit den eigenen Fiction-Waffen zu schlagen, ist es eher unwahrscheinlich, dass Sat.1 in Unterföhring nochmal ähnliches gelingen könnte – außer das für Joyn produzierte "Blackout" erweist sich Ende des Monats am neuen, sonst vornehmlich mit EU-Produktionen bestückten Seriendonnerstag als großer Überraschungserfolg. (Ärgerlich ist das vor allem, weil einer der größten ZDF-Hits, "Der Bergdoktor", in den neunziger Jahren ursprünglich ja mal bei Sat.1 lief.)

Bereits im zurückliegenden Jahr testete Senderchef Daniel Rosemann deshalb eine andere Strategie, indem er den Montag- bzw. Donnerstagabend vorübergehend für Zuschauerinnen reservierte, auf die sonst vornehmlich der Ableger Sat.1 Gold zielt: Frauen zwischen 40 und 64 Jahren.

Fürs ganz junge Publikum war die Dokureihe "Unser Mallorca", für die Sat.1-Neuzugang Birgit Schrowange über der Deutschen liebste Insel im Cabrio flitzen durfte, jedenfalls augenscheinlich nicht gemacht. Schrowange, 64 Jahre alt und inzwischen Testimonial für Anti-Aging-Creme, tauchte ein "in den harten Arbeitsalltag der Hotelangestellten": kurz mal Betten machen, Essen am Buffet austeilen und ein paar Aquagymnastik-Trockenübungen vorbiegen, um dann Erschöpfung zu signalisieren; sie tauchte bei der Botox-Party eines österreichischen "Beauty-Docs" auf, um einer Patientin während der Live-Behandlung Mut zu machen: "Autsch! Uh, nee. Das kann ich nicht sehen. Tut mir leid. Aaa. Ooh. Tut echt nicht weh? Hilfe!" Sie bescherte Susanne, die sich sonst ehrenamtlich für Insel-Bedürftige engagiert, einen besonderen Tag, an dem sich alles nur um sie drehte; ließ sich ins "Liebesnest" von Designer Thomas Rath einladen; und vom Profi ein altes Tattoo am Handgelenk cover-uppen: "Ooh. Ui. Das tut aber weh. Auauaaaua. Ooh. Oh. Hohohoho. Warumhatmirkeinergesagtdassdassowehtut?"

Tränengespräche vor Ostseepanoramafenster

Zwischendurch gab "der ultimative Insel-Insider" Micky Krause "Geheimtipps" für Urlauberinnen (Besuch im Wasserparkparadies), eine Yachtenmaklerin erledigte ihren Job, ein Daniel machte einer Anja einen Hochzeitsantrag während der Weinprobe. Und zum Schluss feierte Schrowange die als "Best Ager Model" bekannte Simone Jacob, die sich (wie Schrowange!) nicht mehr die Haare färbt und die Kunst beherrscht, "im Hier und Jetzt zu leben" und "lustvoll älter zu werden": "Wir trinken auf das Leben!"

Im Anschluss an Schrowanges zweiten Sat.1-Neustart ("Birgits starke Frauen") am Montag übernahm Kollegin Julia Leischik Ende August den Sendeplatz mit ihrer neuen Sendung "Das Haus am Meer", einer Mischung aus "First Dates Hotel" und "Rudi-Carrell-Show": "Hier kann man seine Liebe besiegeln oder wieder zueinander finden". Melanie plant einen Heiratsantrag für André, der auch in schweren Zeiten zu ihr gehalten hat, Sabine wird von ihrer vor zehn Jahren in die USA gezogenen Schwester überrascht, und die 77-jährige Rosemarie trifft die inzwischen 84-jährige Brita Lena wieder, die ihr in der schwedischen Gastfamilie damals wie eine große Schwester war und eine unvergessliche Kindheit beschert hat.

Am Check-in grüßt ein nebenberuflich als "Liebesbote" agierender Hotelmitarbeiter, der süße Haushund Lula liegt mit treuem Blick im Körbchen und Leischik führt in den schönsten Sitzgruppen, die das deutsche Fernsehen bis dato zu bieten hat, emotionale Tränengespräche vor Ostseepanoramafenster, um Taschentücher anzureichen: "Was bedeutet dir deine Schwester?" Und: "Kannst du ein bisschen beschreiben, wie du dich fühlst?" Denn: "Oft nimmt der Weg von hier aus eine ganz andere Richtung als die Gäste das erwartet hätten."

Unausgeschöpftes Schmerzsalbenpotenzial

Leider nahm auch der Quotenverlauf der beiden Neustarts einen ganz anderen Verlauf, als Sat.1 das erwartet haben dürfte – und bei Durchsicht der Werbepauseninhalte stellt sich die Erkenntnis ein, dass auch das Treppenlift- und Schmerzsalbenpotenzial dieses Ausflugs jenseits der klassischen Privatsenderzielgruppe noch sehr viel umfangreicher hätte ausfallen müssen, um dem Vermarkter Seven One Media echte Zusatzpotenziale zu erschließen.

Aber vielleicht war das auch bloß wieder das Pech des falschen Abends, der wohl sehr viel ausdauernder als Alternative fürs ARD/ZDF-Stammpublikum positioniert hätte werden müssen als Sat.1 es letztlich durchhalten wollte.

Was durchaus bedauerlich ist, weil die neuen Formate als Feel-Good-TV-Alternative zum ewigen Polittalk-Krimi-Quizshow-Allerlei z.B. im Montagabendgegenprogramm durchaus getaugt hätten – und die darin etablierte Tonalität Sat.1 gut zu Gesicht stehen würde.

Gleichwohl ist sind die bisher eher verhalten ausfallenden Reaktionen des Publikums auf die genannten Programminitaitiven der Privaten ein schöner Beleg dafür, wie mühsam es für RTL, Sat.1 & Co. werden könnte, bei Stammzuseher:innen von ARD und ZDF durchsickern zu lassen, dass sich das eigene Programm öfter als bisher als zielgruppengerechte Alternative anböte. Um das zu schaffen, wird es wohl unvermeidbar sein, die ein oder andere Durstrecke durchzustehen. Oder wie's eine bekannte TV-Botschafterin des selbstbestimmten Alterns mal formuliert hat: Ooh. Ui. Das tut aber weh. Auauaaaua. Ooh. Oh. Hohohoho. Warumhatmirkeinergesagtdassdassowehtut?

Und damit: zurück nach Köln.

RTL zeigt zwei neue Filme von "Alarm für Cobra 11" an den kommenden beiden Dienstagen ab 20.15 Uhr, "Dünentod – Ein Nordsee-Krimi" folgt in der Woche darauf. "Unser Mallorca mit Birgit Schrowange" und "Das Haus am Meer mit Julia Leischik" sind bei Joyn+ abrufbar.

Korrektur: In der ursprünglichen Version dieses Textes hieß es, "Unser Mallorca" sei am Montagabend gelaufen; dort wurde allerdings "Birgits starke Frauen" gezeigt. "Unser Mallorca" lief donnerstags in Sat.1.