"Das ist heute eine ganz besonders persönliche 'Stern TV'-Sendung für mich", begrüßte Steffen Hallaschka sein Publikum in der vergangenen Woche am späten Mittwochabend und ließ ein Versprechen und eine Warnung folgen: nämlich den "intensivsten und bewegendsten Moment, den ich in 25 Jahren beim Fernsehen erlebt habe", zu zeigen; und: "Sie sollten sich das nur ansehen, wenn sie stark und stabil genug dafür sind."
Er hatte Recht.
Kurz darauf lief ein Film, für den der Moderator in die Schweiz gereist war, um dort eine unheilbar an Zungenkrebs erkrankte Patientin dabei zu begleiten, assistierten Suizid in Anspruch zu nehmen, weil sie die schweren Schmerzen nicht länger ertragen wollte.
Ganz schön – uff!
Hallaschka und sein Kamerateam durften sie – ursprünglich für die unkonventionelle RTL+-Reihe "Sterben für Anfänger" (DWDL.de berichtete) – interviewen, ließen sich Beweggründe und Entscheidungsprozess erläutern, ihre Sterbehelferin zu Wort kommen und wurden schließlich eingeladen, dabei zu sein, als sie in Gegenwart ihres Mannes die finale Entscheidung traf, aus dem Leben zu treten. Das war – uff. Und mit seiner sehr respektvollen Umsetzung ein ziemlich wuchtiger Auftakt für eine "Stern TV"-Ausgabe, die sich ganz dem Thema Sterbehilfe widmete, die vom Deutschen Bundestag in Kürze debattiert und neu geregelt werden muss.
Im Studio sprach Hallaschka einfühlsam mit dem Ehemann der Patientin, die er begleiten durfte; er interviewte einen Vater, der seine an Krebs verstorbene Tochter ins Hospiz begleitet hatte; und führte anschließend – unter stetigem Hinweis für Betroffene, Hilfe bei der Telefonseelsorge zu erhalten – emotional, aber souverän durch eine Gesprächsrunde, in der Befürworter:innen und Gegner einer weitgehend liberalen Regelung zum selbstbestimmten Sterben zu Wort kamen.
Es war eine ziemlich gelungene Sendung mit einem sichtlich aufgewühlten Moderator.
Demselben Moderator, der seine Zuschauer:innen eine Woche zuvor noch mit von Erkältung belegter, aber heiterer Stimme in der Sendung empfangen hatte: "Wir retten Ihren Mittwochabend!" – um sodann gleich zum großen "Stern TV Schnitzeltest" umzuschalten, für den eine Reporterin den Gäst:innen einer Imbissbude vegane als echte Schnitzel unterjubelte, um dann ihre verdutzten Blicke zu filmen, als die Auflösung kam: War gar kein echtes Schnitzel! Baff? Dann können wir Ihnen ja noch die Ergebnisse des Stiftung-Warentest-Veggie-Schnitzel-Tests referieren.
Journalistischer Ehrgeiz, ambitionsfreies Abgeklapper
Es ist das uralte Prinzip der "Wundertüte", an dem sich nicht nur das Print-Magazin, sondern auch die TV-Adaption der Marke "Stern" seit jeher orientiert, um seine Zielgruppe gleichzeitig zu überraschen, zu informieren und zu unterhalten – oder wie Moderator Hallaschka sagt: "die Blaupause für Infotainment im deutschen Fernsehen". Mit dem klitzekleinen Nachteil, dass das eigentlich ein ziemlicher Murks ist.
Okay: Es gibt sonst nur wenige Sendungen, deren Zuschauer:innen vorher nicht wissen, ob sie am Abend eine Sendung einschalten, in der sie Sterbehilfe oder Schnitzeltest erwartet. Vielleicht ja: aus gutem Grund. Und mag sein, dass ich da altmodisch bin, aber ich wüsste schon ganz gerne, welches TV-Erlebnis mir die Programmmarke meines Vertrauens zu bescheren gedenkt, wenn ich dafür bis Mitternacht eingeschaltet bleiben soll. Zumal das Wundertütenprinzip von "Stern TV" längst nicht mehr nur für die Auswahl der Themen gilt, sondern auch für deren qualitative Umsetzung.
Denn neben Ausgaben mit klar erkennbarem journalistischen Ehrgeiz, die "wir Fernsehmenschen" mit dem "naiven Gedanken" machten, dass sie "einen noch weiterbringen", wie Hallaschka es am Mittwoch formuliert hat …
… gibt es regelmäßig auch solche, die aus wenig anderem bestehen als einem weitgehend ambitionsfreien Abgeklapper halbwegs wochenaktueller Themen, angereichert mit Zeitlosigkeiten und wiederkehrenden Protagonist:innen wie der (zweifellos sympathischen) Schweizerin, die nach Australien ausgewandert ist, um dort eine Auffangstation für verletzte Wildtiere aufzubauen, waise Wallaby-Babys mit der Flasche großzuziehen und verletzte Flughunde zum Tierarzt zu bringen. Um hinterher noch von einem Chemie-Professor demonstriert zu kriegen, wie Power-Entfärber aus der Drogerie funktioniert und wie sich aus Haarwachs Kerzen basteln lassen (Docht reinstecken, anzünden, fertig).
Was sagt der Bauer zur Pille und Mola zum Streik?
Die Situation hat sich ohne Not dadurch verschärft, dass vor anderthalb Jahren irgendwer bei RTL entschieden hat, die Marke "Stern" noch prominenter im Programm zu platzieren, was anfangs zu einigen kuriosen Spezial-Ausgaben führte, eine Quasi-Schlichtung mit der für das Original zuständigen Produktionsfirma I&U notwendig machte – und jetzt haufenweise Zusatz-"Stern TV"s von teilweise sehr zweifelhafter Qualität in den Wochenablauf spült.
Nach anfänglicher (und sehr streitbarer) Experimentierlaunigkeit hat sich etwa "Stern TV am Sonntag" in einen weitgehend egalen Talk zu den Themen der Woche gewandelt, für den – wie Ende März – im Zweifel ein Kandidat der aktuellen "Bauer sucht Frau"-Staffel eingeladen wird, um mitzudiskutieren, ob Verhütung nur Frauensache ist und er die Pille für den Mann nehmen würde, weil vorher bei RTL gerade Teil 3 von "Fifty Shades of Grey" lief. Zum Streik, der "ganz Deutschland" lahmgelegt hat, sagen Politiker:innen Politiker:innensätze, und zwar neben "Reality TV-Teilnehmer" Mola Adebisi und "Frau TV"-Moderatorin Lisa Ortgies, die nach dem ersten Thema einfach sitzen geblieben sind; die Frage, ob man vom Bürgergeld okay leben kann, lässt sich unterschiedlich beantworten; und bitte nehmen Sie jetzt per Smartphone an einer Umfrage teil, die Moderator Dieter Könnes nach der nächsten Werbepause auflösen wird, falls dann noch wer wach ist.
Nichts daran ist sonderlich kreativ oder überraschend, es reden einfach noch mehr Menschen über noch mehr Themen, zu denen sich eilig ein paar einleitende Einspielfilme und eine Einschätzung der "Stern TV"-Fachanwältin im Homeoffice produzieren lassen, um anderthalb Stunden Sendestrecke zu füllen.
Eine Simulation von Journalismus
Richtig ärgerlich sind hingegen die von RTL zur Primetime gezeigten "Stern TV Inside"-Ausgaben, die dem Publikum zuletzt suggerierten, sie würden für "exklusive Einblicke" "hinter die Kulissen" großer Supermarkt- und Drogerieketten blicken – obwohl die Redaktion sich bloß vom dm-Chef, einem Aldi-Nord-Gebietsleiter, diversen Logistiker:innen und Marktbetreiber:innen einmal durch die schönsten Vorzeigefilialen und Lager hat führen lassen, um dort dann darüber staunend, wie toll und groß das alles ist, partout keine kritischen Fragen zu stellen – sonst wären die Türen vermutlich schneller wieder zugegangen als Moderator Stefan Uhl sein Grinsen neu hätte auflegen können.
Angereichert mit ein paar sehr freundlichen Besuchen in Produktionsstätten großer Markenprodukthersteller von Dr. Oetker bis Henkel ("die geheimen Hallen") entpuppte sich "Stern TV Inside" als Best-of der Bekanntheiten aus öden Verbrauchermagazinen der Dritten, "Galileo" und "ZDFzeit", Produkteinkaufsvergleich mit Durchschnittsfamilie inklusive. Dass es sich dabei bloß um eine Simulation von Journalismus handelt, die sich von den beteiligten Firmen jederzeit ideal zur PR einsetzen ließe, scheint in Köln niemanden gestört zu haben. Was für ein unfassbarer Aufwand – für soviel Stuss.
Für beide "Inside"-Ausgaben räumte das reguläre "Stern TV" zuvor trotzdem ebenso bereitwillig wie umfassend Platz frei, um schonmal minutenlang vorab zu zeigen, was sich das Publikum am nächsten Abend in der Primetime ansehen sollte – und, naja, das kommt immerhin einem anderen "Stern TV"-Trend entgegen, nämlich dem, die reguläre Wochenausgabe regelmäßig zu einem XXL-Programmtailer für weitere Produktionen der Marke umzufunktionieren, um sie kurz mit Zusatzinterviews oder Gag-Experimenten anzureichern.
"Stern TV" über "Stern TV" bei "Stern TV"
Ende März eröffnete Hallaschka die Mittwochssendung mit einer achtminütigen Preview auf "Stern TV Inside Drogeriemarkt" ("Sie werden Ihre Drogerie mit anderen Augen sehen"), nach der Werbepause lief der Trailer zur Ukraine-Reportage der "Stern TV"-Reporterin Sophia Maier, die direkt danach im "Stern TV"-Studio saß, um schon mal 13 Minuten zusätzliches Material zu zeigen und ihre Erlebnisse im Gespräch mit Hallaschka einzuordnen.
Der "Stern TV"-Moderator spricht mit der "Stern TV"-Journalistin in "Stern TV" über eine Reportage aus dem "Stern TV"-Kosmos am nächsten Tag – klar kann man das machen, wenn sonst schon alle Themen, die einem einfallen könnten, abgeklappert worden sind. Wenn die Frage, wie groß die E-Scooter-Euphorie in Deutschland wirklich ist, erst in der nächsten Woche gestellt wird, weil die Redaktion erst noch dem Ordnungsamt Berlin-Mitte beim Knöllchenschreiben und Rollerumparken zusehen muss. Und wenn alle Mitarbeiter:innen des Insolvenz-Dauerebrenners Galeria Karstadt Kaufhof den Wegfall ihrer Jobs betrauert haben, nachdem sich Hallaschka vorher lustig machen konnte: "Galeria Karstadt Kaufhof – schon ein Name wie ein Grabbeltisch mit Restbeständen, zusammengeschraubt aus Einzelteilen, die alle früher mal glanzvoll waren."
Also: so ähnlich wie beim mit Gruner+Jahr zusammenfusionierten RTL, wo jetzt das televisionäre Warenhaus "Stern TV" unablässig die thematischen Restbestände der Woche zusammenkehrt und von Zeit zu Zeit mal eine echte Glanzausgabe produziert?
Bloß keinen "Kuddelmuddelscheiß"
Neulich waren Tim und Katharina Raue bei Hallschka zu Gast, natürlich um vorab schon mal minutenlang Einblick in die neue RTL-Sendung "Raue der Restaurantretter" zu geben und anschließend über Kompromisslosigkeit in der Gastronomie zu sprechen bzw. die Notwendigkeit, ein "scharfes Konzept" zu haben. Raue sagte: "Mit Mittelmäßigkeit kannst du heute keinen Gast mehr bekommen. Wenn du so'n Kuddelmuddelscheiß machst – bisschen Griechisch, bisschen Pizza, bisschen Sushi – und glaubst, dass das ein Restaurantkonzept ist, dann bist du komplett am Arsch."
Außer im Fernsehen. Da bist du mit dieser Strategie: "Stern TV".
Und damit: zurück nach Köln.
Korrektur: Ursprünglich stand in diesem Text, bei "Stern TV" seien 13 Minuten aus der Reporatge von "Stern TV"-Reporterin Sophia Maier gelaufen; tatsächlich handelt sich um zusätzliches Material. Die Passage wurde entsprechend korrigiert.
"Stern TV am Sonntag" läuft um 22.15 Uhr bei RTL, "Stern TV" am Mittwoch ab 22.30 Uhr. Weitere Inhalte sind über den "Stern TV"-Kanal auf YouTube abrufbar.