Als Louis Klamroth das Publikum von "hart aber fair" am vergangenen Montagabend vorspannfrei in die Hände von Caren Miosga gab, war ein bisschen was anders als sonst: Miosga stand ungewöhnlich lässig gekleidet in grasgrüner Fliegerjacke vor der eindrucksvoll angeleuchteten Hagia Sophia, um aus dem spätabendlichen Istanbul durch die Sendung zu führen, bei der irrtümlich die ganze Zeit in der unteren Bildschirmecke eingeblendet stand, dass es sich um die "Tagesthemen" handele. Obwohl "Tagesthema" eigentlich richtiger gewesen wäre.
Kurz zuvor hatte der NDR bekannt gegeben, die Sendung werde sich an diesem Tag aus der Türkei melden, um über die bevorstehende Präsidentschafts- und Parlamentswahl und die Stimmung im Land zu berichten, ganz ohne Riesenleinwand und Studiotisch.
Also streifte Miosga durchs Istanbuler Nachtleben, unterhielt sich auf der Straße mit Befürworter:innen und Gegner:innn des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (der für die ARD nicht zum Interview bereit stand) und dem Menschenrechtsanwalt Veysel Ok über die Schwierigkeit, seine Arbeit zu machen. Miosga fragte Oppositionsführer und Erdoğan-Konkurrent Kemal Kılıçdaroğlu, was sich im Land ändern werde, wenn er die Wahl gewönne, und wollte von ihm wissen: "Sind die der Olaf Scholz der Türkei?" Dazu lief ein Beitrag, der die Unterschiede zwischen den Bewerbern herausarbeitete, ein Bericht über die Situation einer Familie, die wegen des schweren Erdbebens im Februar ihr Haus verloren hat und nun zusehen muss, wie die internationale Hilfsbereitschaft langsam schwindet – ohne eine Perspektive für sich zu sehen. Schließlich bat Miosga auf dem Dach zwischen Scheinwerfern und Kameras noch die Leiterin des ARD-Studios in Istanbul um ihre Einschätzung.
Veränderte Schwerpunktsetzung
Und gab ganz zum Schluss kurz nach Hamburg ab, wo Susanne Daubner überflüssigerweise den Abend über darauf gewartet hatte, in zwei Minuten die restlichen Nachrichten des Tages vorzulesen. Dann noch ein Minütchen Wetter, zurück – und: "Auf Wiedersehen aus Istanbul".
Es war bis dahin eine durchweg informative Sendung mit ausgewogenem Blick auf ein Land, bei dem bis zuletzt unklar ist, für was sich seine Menschen an diesem Sonntag entscheiden werden: eine Fortsetzung von Erdoğans autokratisch-präsidentiellem System oder den Neuanfang als parlamentarische Demokratie. Nur eine Nachrichtensendung, die den Anspruch hat, ihrem Publikum das tagesaktuelle Weltgeschehen zusammenzufassen und einzuordnen, war's halt nicht.
Das ist nicht weiter schlimm. Im Gegenteil: Dass sich die ARD traut, eines ihrer Nachrichtenflaggschiffe nicht immer nur stur aus sicherer Entfernung von außen auf die Welt blicken zu lassen, ist durchaus begrüßenswert. Dafür lässt sich auch mal eine veränderte Schwerpunktsetzung in Kauf nehmen. Bloß wird die Ausnahmesituation gerade zur Gewohnheit.
Zum Schluss: der Alibinachrichtenüberblick
Erst Mitte April begrüßte Ingo Zamperoni im Zipperjäckchen mit aus dem Rundhalspulloverauschnitt guckendem Hemdkragen die Zuschauer:innen "zu einer – in vielerlei Hinsicht – außergewöhnlichen Ausgabe" der "Tagesthemen". Und zwar vom Gelände des Atomkraftwerks Isar 2, dessen bevorstehende Abschaltung einen Tag später das Ende des Atomzeitalters in Deutschland manifestieren würde. Das Intro der Sendung war eindrucksvoll mit der nächtlichen Wasserdampfwolke überm Kühlturm hinterlegt, auf den anschließend "Tagesthemen"-Logo, Grafiken und Karsten Schwanke mit dem "Wetter" projiziert wurden. Zwischendurch lief ein Bericht, für den Zamperoni in Sicherheitskleidung ins Abklingbecken der Anlage hineinsehen durfte. Anschließend brachte der Kraftwerks-Chef im Interview sein Bedauern über die Abschaltung zum Ausdruck, und es liefen Kurzreportagen über Widerständler:innen und Befürworter:innen in der Region, Interviews mit Ricarda Lang und Markus Söder ("Ihnen noch viel Freud bei Isar 2"), bis Constantin Schreiber allein zuhaus nach 41 Minuten vom Studio aus den Alibinachrichtenüberblick vortragen durfte.
Nun stellt es keine Neuerung dar, dass sich Moderator:innen etablierter Nachrichtensendungen zu ausgewählten Ereignissen vom jeweiligen Ort des Geschehens melden. Lange Zeit war das vor allem bei US-Wahlen üblich: Ende 2020 meldete Zamperoni von Washington aus den Sieg von Joe Biden in den "Tagesthemen" (an zwei aufeinander folgenden Tagen). Vor über zehn Jahren schon stand Marietta Slomka fürs "heute journal" im ZDF anlässlich der damaligen russischen Präsidentschaftswahl auf dem Roten Platz in Moskau. Und bei RTL moderierte Maik Meuser im Februar dieses Jahres als "Anchor on Location" ein "RTL aktuell Spezial" live aus Kiew, um anlässlich des Beginns des Krieges in der Ukraine vor einem Jahr mit Expert:innen und den Menschen auf der Straße zu sprechen.
Dürfen's ein paar Ausgaben mehr sein?
Aber natürlich kann man in diesem Zuge die Frage stellen, ob das eine gute Idee ist, wenn die Redaktion einer klar strukturierten aktuellen Sendung wie den" Tagesthemen" plötzlich in schöner Regelmäßigkeit ihre Liebe zur Monothematik entdeckt und dafür ihre übrigen Verpflichtungen herunterdampft.
Ich glaube: leider eher nicht.
Was nicht bedeutet, dass man die Ambitionen in Hamburg, auf besondere Ereignisse mit besonderen Maßnahmen zu reagieren, abstellen sollte. Aber vielleicht: in eine passendere Form lenken?
Dass der NDR Miosga angesichts der Unberechenbarkeit der Situation im Land nicht am eigentlichen Wahltag nach Istanbul schicken wollte, ist sehr verständlich; aber natürlich hätte die Möglichkeit bestanden, die "Tagesthemen" ihren Anchor, Pardon: Anker in der zurückliegenden Woche für mehrere aufeinander folgende Tage in der Stadt werfen zu lassen. In einer Schwerpunktwoche hätte Miosga erst regulär über die Ereignisse des Tages in Deutschland und der Welt berichten können – um den Blick im zweiten Teil dann wiederkehrend auf die Situation in der Türkei zu richten. Für mich hätte sich das sehr viel stimmiger angefühlt als der (ebenfalls gelungene) journalistische Kurzausflug, für den man sich stattdessen entschied.
Super Auftakt für eine neue Reihe
Mag sein, dass die beschriebene Monothematisierungstendenz auch bloß veranschaulicht, wie sehr ARD aktuell ein Format fehlt, in dem genau das möglich ist, was die Istanbul- und AKW-"Tagesthemen" umgesetzt heben: eine Mischung aus Reportage und einordnenden Magazinbeiträgen mit Interview-Elementen, die von einer für Sender und Publikum zentralen Figur der Nachrichtenpräsentation getragen wird.
Nun liegt mir nichts ferner als der ARD mit ihrem üppigen Markendurcheinander noch ein zusätzliches Format vorzuschlagen – aber wenn man, mal Spaß beiseite, das "Tagesthema" als zusätzlich gesendete Variante der "Tagesthemen" verstünde, könnte das durchaus eine sehr zeitgemäße Ergänzung der bisherigen ARD-aktuell-Welt sein. (Im besten Fall auch ein Ausgleich dafür, dass der Sender seine Nachrichtenformate sonst in so enge Zeitkorsette steckt.)
Oder, anders gesagt: Als "Tagesthema: Caren Miosga aus Istanbul" bzw. "Tagesthema: Ingo Zamperoni aus Isar 2" könnten die beiden Auswärts-Tests der vergangenen Wochen ein hervorragender Auftakt für ein wiederkehrendes Schwerpunktformat sein – wie gesagt: in zeitlicher Ergänzung zur regulären Ausgabe, und wegen ihrer magazinigeren Machart auch ohne den Kolleg:innen vom "Weltspiegel" in die Quere zu kommen.
Das wäre vielleicht nicht mehr ganz so "außergewöhnlich" wie bisher; aber ein echter Gewinn für die Zuschauer:innen im Ersten.
Und damit: zurück nach Köln.
Die Istanbul-Ausgabe und die AKW-Ausgabe der "Tagesthemen" lassen sich in der ARD Mediathek abrufen.