"Verbrechen lohnt sich nicht", behauptet der Volksmund, aber um das zu widerlegen, haben ihm deutsche TV-Sender schon längst mal ordentlich die Fresse poliert.

Tag für Tag flimmern statistisch gesehen etwa 3.000 Morde (Schätzwert) über die Bildschirme hiesiger Fernsehhaushalte, und man muss kein:e Programmplaner:in sein, um zu wissen, dass jeder noch so oft wiederholte Krimi auch den nischigsten Spartensender zum Primetime-Gewinner machen kann, wenn die Konkurrenz so nachlässig war, kein eigenes TV-Verbrechen dagegen zu setzen.

Weil das trotzdem nicht reicht, um das nach Straftat und Frevel gierende Publikum zu befrieden, gibt es seit geraumer Zeit außer den von Drehbuchautor:innen ersonnenen Fällen zunehmend auch nacherzählte echte zu sehen.

Unscharfe Detail-Close-ups im Dunkeln

Zumindest hält sich die vor längerer Zeit aus den Streaming-Diensten aufs lineare Fernsehen übergeschwappte True-Crime-Faszination dort hartnäckiger als der taffeste Fernsehschurke seine Klappe: ZDFinfo hat gerade bis zum 21. September die "True-Crime-Wochen" mit zahlreichen Erstausstrahlungen ausgerufen und in diesem Zuge das frühere Funk-Format "Schuld & Sühne" auf nochdüsterer getrimmt; Vox erzählt derzeit in 90-minütigen Episoden von wahren Fällen, in denen "Die letzte Spur" so genannten "Cold-Case"-Ermittler:innen dabei half, Verbrechen aus der Vergangenheit aufzuklären.

Bilden die Sender damit bloß einen gesellschaftlichen Trend ab? Schließlich verzeichnete die polizeiliche Kriminalstatistik des vergangenen Jahres erstmals wieder einen Anstieg der registrierten Straftaten. Nicht ganz: Da Raubdelikte, Wirtschaftskriminalität und Diebstahl so unsexy zu verfilmen sind, hat man sich in den TV-Redaktionen ersatzweise für Mord aus Rache, Mord aus Habgier und Mord aus Kaltblütigkeit entschieden.

Also werden (ehemalige) Kommissar:innen, Pressesprecher:innen, Freund:innen und Nachbar:innen der Opfer, Gutachter:innen und Gerichtsmediziner:innen zum Interview geholt, um deren Erinnerungen mit Nachstellszenen – unscharfe Detail-Close-ups im Dunkeln, von hinten gefilmte Darsteller:innen – und Standardsätzen auszuschmücken. "Es ist der 17. Januar, ein kalter Wintermorgen – Heidrun P. fährt mit ihrem VW Polo zu den Schwarzwaldkliniken"; "66 Tage danach machen zwei Spaziergänger im Wald einen grausigen Fund"; "Die Polizei steht vor einem Rätsel"; "Warum musste er sterben?"; "Der Fall des Toten im Kanal bleibt vorerst ungeklärt."

Bis der Täter zum Schluss doch gefasst ist, die Kamera einmal durch den Gerichtssaal schwenkt und erklärt wird, in welchem Regungslosigkeitsgrad der Verurteilte das verhängte Strafmaß aufgenommen hat.

Ein Goldschatz bebilderbarer Verbrechen

Die Nacherzählverbrechen sind für die Sender leichte Beute: Sie erzählen – wie "Schuld & Sühne" – Ermittlungen zu Ende, bei denen zuvor bereits "Aktenzeichen XY … ungelöst" zu Hilfe gerufen wurde. Oder verfilmen – wie "Die letzte Spur" – einfach jahrealte Gerichtsreportagen aus dem "Stern", deren Autor:innen vor der Kamera nochmal bekräftigen, was sie damals recherchiert haben. (Alleine dafür dürfte sich der Merger von RTL mit Gruner+Jahr schon gelohnt haben: Im "Stern"-Reportagen-Archiv wartet noch ein ganzer Goldschatz bewegtbebilderbarer Verbrechen!)

Dass die Fälle mehrheitlich so konventionell linear wie ein durchschnittlicher TV-Krim erzählt sind, entsprecht den Gewohnheiten des Publikums. Nur halt mit dem Bonusgrusel, das Geschilderte auf der wiederholt eingeblendeten Landkarte an tatsächlich existierenden Orten festpinnen zu können: im Wald, auf dem Parkplatz, an Wohnort und Arbeitsstelle des Opfers.

Sanfte Veredelungsversuche lösen sich oft schnell in Luft auf, wenn man sie zur Überprüfung antippt: Journalistin und Podcasterin Paulina Krasa, die bei "Schuld & Sühne" im düsteren Studio vor einem Diavortrag herumsteht, behauptet: "In dieser Folge erzähl ich euch von einem Verbrechen, das bislang noch wenig bekannt ist" – außer halt, dass die Internetsuche mit drei sehr allgemeinen Stichworten sofort eine ausführliche "Spiegel"-Geschichte als ersten Treffer ausspuckt.

Ein besonders zeitkritischer Dreh

Abgesehen davon strengt sich das ZDFinfo-Format sichtlich an, den Fällen einen zeitkritischen Dreh zu geben: "Das zeigt, was in unserer Gesellschaft falsch läuft", mahnt Krasa, wenn "ältere Mitmenschen (…) in der Anonymität unserer Großstadt kaum wahrgenommen werden" – und ihr Leichnam erst Jahre später entdeckt wird. (Obwohl der in der Folge umfangreich zu Wort kommende Nörgelnachbar sich, wie beschrieben, ständig einzuschalten versucht hatte.)

In Episode zwei bemüht sich das von K2H produzierte Format um die Sensibiliserung für Femizide und fordert eine "gesamtgesellschaftliche Änderung". Für den Hinweis, wohin sich Betroffene wenden können, die fürchten, in eine ähnliche Situation zu geraten, reicht die Zeit nach dem ausführlich erzählten Doppelmord mit möglichst plastischer Todesartbeschreibung aber leider nicht mehr, sorry.

Dagegen ist "Die letzte Spur" geradezu erfrischend ehrlich: Das Vox-Format will einfach nur ein paar aus den Akten wieder aufgetauchte Straftaten nachillustrieren.

Eins macht die True-Crime-Formate senderübergreifend scheinheilig. In der Reportage "Diese Sendung ist kein Spiel" beschäftigte sich das ZDF kürzlich selbstkritisch mit der "unheimlichen Welt des Eduard Zimmermann" und damit, wie "Aktenzeichen XY" von einer ganzen Generation junger Zuschauer:innen als Angstmacher vor einer übergefährlichen Gesellschaft interpretiert werden konnte, wenn man sich aus deren Konvention zu treten wagt (hier die DWDL.de-TV-Kritik).

Gedeih und Verderb in der Nachbarschaft

"Schuld & Sühne", "Die letzte Spur" & Co. knüpfen exakt daran an: Sie suggerieren ihrem Publikum durch die Auswahl besonders spektakulärer Fälle nicht nur, dass die geschilderten Abscheulichkeiten quasi an der Tagesordnung sind, also: jeden Tag irgendwo ein Rentner zersägt und in die Kühltruhe gestopft ("Schild & Sühne") oder im Fluss versenkt ("Die letzte Spur") wird.

Sie lehren auch, dass Gedeih und Verderb oft in allernächster Nachbarschaft lauern, begangen von ganz normal wirkenden Menschen, denen man die Tat niemals zugetraut hätte ("Das könnte auch mein Nachbar sein") – bis die in Eigenblut geschriebenen Geständnis-Tagebücher auftauchen. Wie soll man sich danach anders fühlen als ohnmächtig und hilflos?

Die True-Crime-Formate sind die legitimen Erben Eduards, der endgültige Beleg dafür: Verbrechen lohnt sich doch – zumindest für all jene, die es später zu Unterhaltungszwecken nacherzählen wollen.

Und damit: zurück nach Köln.

"Die letzte Spur – Die Cold-Case-Ermittler" läuft mittwochs um 22.15 Uhr bei Vox; ZDFinfo zeigt die beiden Episoden von "Schuld & Sühne" am Freitag, den 15. September, ab 20.15 Uhr.