Eigentlich hätte sich die ARD in diesem Jahr das ganze noch komplizierter gewordene Gewese um den Vorentscheid für den deutschen Beitrag zum Eurovision Song Contest sparen können – und von vornherein auf die naheliegendste Lösung setzen sollen: Bülent Ceylan.
Der veröffentlicht in knapp drei Wochen sein erstes eigenes Album, hat mit dem Mittelalter-Rockband-Frontmann von Saltatio Mortis gerade schon die Mitgröl-Hymne "Brüder" rausgebracht und im vergangenen Jahr einen sehr radiokompatiblen Rocksong vorgelegt, der nach Metal-lastigem Einstieg mit einem Hochdeutsch gesungenen Refrain (und zwischendrin leicht christlichem Einschlag) überrascht: "Ich liebe Menschen / Gibt es doch meistens gute Gründe / Dass man sie eher scheiße findet / Doch die Wahrheit ist: / Ich liebe Menschen / Ich weiß, dass sie es kaum verdienen / Doch ich bin auch einer von ihnen."
Und, mal ehrlich: Was soll mit einem headbangenden "Monnemer Türk", der die tief geröhrte Kritik an der eigenen Spezies mit einem fast popsonghaften Liebesbekenntnis an sie verbindet, in Malmö schon schief gehen?
Heimspiel in Monnem
Nur ein Grund spricht gegen den ESC-Einsatz, und zwar: dass Ceylan am 11. Mai, wenn's in Schweden ums Ganze geht, schon mit ein paar tausend Leuten in Oberhausen verabredet ist – nachdem das wegen Corona schon zwei Mal verschoben werden musste. Ein drittes Mal kann er das seinen Fans nun wirklich nicht antun.
Zumal sich dieses Jahr zeigen wird, ob die ihm auch in seine Zweitkarriere als Musiker folgen, die Ceylan gerade ernsthaft vorantreibt – nachdem er im Anschluss an seine Teilnahme bei der Pro-Sieben-Show "The Masked Singer" mehrfach dazu ermuntert worden war.
Aber wahrscheinlich muss man sich da nicht allzu viele Sorgen machen. Zumal Ceylan auch den Rest des Jahres ganz gut ausgelastet sein wird, wenn er rund 70 Mal sein neues Bühnenprogramm "Yallah Hopp!" in deutsche Mehrzweckhallen von Aschaffenburg über Göppingen bis Wetzlar bringt. Gerade läuft die Vorpremiere, bevor es Ende Februar in Frankfurt richtig losgeht und im März natürlich auch wieder ein Heimspiel in der Mannheimer SAP-Arena vor 10.000 Zuschauer:innen angesetzt ist.
Das RTL-Abendprogramm gerockt
Im Zweifel muss Ceylan dem Fernsehen sogar dankbar dafür sein, dass es ihn nicht mehr so sehr wie früher in Beschlag nimmt, damit für Musik und Bühne ausreichend Zeit bleibt – wobei nicht ganz klar ist, was wirklich ausschlaggebend für diese schleichende Entfremdung war.
Zehn Jahre ist es her, da rockte Ceylan außer Mehrzweckhallenbühnen auch regelmäßig das RTL-Abendprogramm, angeschoben von "Wer wird Millionär?", "Supertalent" und "DSDS": Mit der "Bülent Ceylan Show" und "Bülent und seine Freunde" war er eine feste Größe in der deutschen TV-Comedy, trug den kurpfälzischen Dialekt ins ganze Land hinaus, fühlte sich von RTL irgendwann vernachlässigt, wechselte zu Sat.1, um neue Genres auszuprobieren – und stand, als das eine nicht auf Anhieb funktionierte und das andere nie umgesetzt wurde, plötzlich ohne eigene Show da.
Bei beiden Mainstream-Sendern könnte man sich Ceylan immer noch sehr gut in der allerersten Programmreihe vorstellen – wenn denn nur jemand den dafür notwendigen Ehrgeiz an den Tag gelegt hätte, ihm ein passendes Format zu entwickeln.
Stattdessen ist inzwischen – im wahrsten Sinne des Wortes: naheliegenderweise – der SWR Ceylans Haussender, für den er sich gerade bereits durch die zweite Staffel der Wissenschafts-Comedyshow "Babbel net!" albert. (Red' kein dummes Zeug.)
Gute Idee mit fehlendem Feinschliff
Um die Mechanismen der Angst zu ergründen und die eigene Arachnophobie zu besiegen, lässt Ceylan sich in Begleitung einer Psychologin eine Vogelspinne auf die Hand setzen; in München besucht er eine Lernfabrik für Roboter, um Chancen und Risiken der Künstlichen Intelligenz zu ergründen (und "Such die Sucuk" mit ihr zu spielen); und von einem Biologen wird er in die Feinheiten der tierischen Kommunikation eingeweiht, um sich auf dem Bauernhof (mittelerfolgreich) die Sprache von Kuh, Pferd und Alpaka draufzuschaffen.
"Babbel net!" ist eine großartige Idee, weil die Show ihrem Publikum auf leichte Art Grundwissen zu Gegenwartsthemen zu vermitteln versteht – auch wenn leider an einigen Stellen das Verhältnis zum Grobhumorigen nicht ganz stimmt und das Format etwas mehr Feinschliff gut gebrauchen könnte. (Unabhängig von den drei Stunden Aufzeichnung für 60 Minuten Showmaterial.)
Funktionieren würde diese Kombination aber womöglich auch bei den großen Privatsendern. Der SWR macht stattdessen eine "Mundart Comedy"-Produktion für die ARD Mediathek draus, die dienstagspätabends auch noch mal linear im Dritten läuft, wo Ceylan im Anschluss an Regionalfastnacht und SWR-Komikurgesteine irgendwie deplatziert wirkt. Immerhin dürfte "Babbel net!" so frei von allzu hohen Quotenerwartungen sein, über die sich Ceylan bereits zu Privatsenderzeiten wenig begeistert geäußert hatte. Es verkauft ihn im Linearen aber auch unnötig unter Wert.
Alltags-Gag trifft Toleranzbotschaft
Denn mit seiner Erfolgsmischung aus Hardrock-Begeisterung, regionalem Situationswitz und erklärter Menschenfreundlichkeit hat Ceylan ein durchaus bewundernswertes Talent, Zuhörende über alle Schichten und Generationen hinweg zu entertainen – nicht mit unnötig ausgefeilter Komik, aber mit gut beobachteten Alltagssituationen, die zu schnell zündenden Gags geschmiedet werden, denen Ceylan dann ganz unauffällig Botschaften gegen Rassismus und für mehr gesellschaftliche Toleranz anhängt, ohne allzu politisch zu werden: "Ein Türke sagt immer seine Meinung."
Ceylan spricht Leute an, die sich sonst vom klassischen Fernsehen vielleicht nicht (mehr) so leicht ansprechen lassen – und gleichzeitig ist er nicht der einzige, der dafür das Medium, das ihn hat groß werden lassen, nicht mehr unbedingt braucht.
Um Karten für die Tour zu verkaufen oder seine neue Single zu "pre-saven", kommuniziert er einfach per Instagram, Facebook oder TikTok direkt mit seinen mehr als zwei Millionen Follower:innen – das geht schneller und unkomplizierter. Und so nachvollziehbar das aus seiner Sicht auch sein mag: Fürs Fernsehen ist es ein Verlust, der sich auch dadurch nicht auffangen lässt, dass Ceylan gerne als Gast in kleinere Shows und Talks geht, um seine Geschichte zu erzählen: wie er vom unsicheren Jugendlichen aus deutsch-türkischem Elternhaus mit Mobbing-Problemen in der Schule zum langhaarigen Metal-Comedian geworden ist, den man problemlos vor 80.000 Besucher:innen in Wacken stellen kann, um die zu unterhalten.
Ein Versäumnis der Privatsender
Als "Comedy-Star aus dem Arbeiterviertel" hat der SWR ihn im vergangenen Jahr für "Back to the Roots" durch seine seine Heimat streifen lassen, wo er bei einer überraschten Dame an der Tür ihres Wohnblockzuhauses klingelte, um ihr zu eröffnen, dass hier mal sein Kinderzimmer war – und später zu bilanzieren: "Ich brauch diesen Dialekt, ich brauch diese Region, das ist meine Inspiration."
Und in der schönen RBB-Musikreihe "Lebenslieder" hatte Ceylan vor drei Jahren schon übers Großwerden, die Beziehung zu seinem Vater und seine musikalische Prägung gesprochen sowie gemeinsam mit Gastgeber Max Mutzke erst "Sweet Dreams" in der Marylin-Manson-Version und später "Erstarrung" aus Schuberts "Winterreise" live vor Publikum performt.
Ceylans Karriereverlauf in den vergangenen Jahren demonstriert anschaulich, wie sehr dem Privatfernsehen das Talent abhanden gekommen ist, Künstler:innen Angebote für Formate zu machen, die sich nach Weiterentwicklung anfühlen und einen wirklichen Reiz für sie entfalten – weil sie über das gewohnte Ankündigen wechselnder Stand-up-Gäste hinausgeht.
Liebeserklärung ans Lineare?
"Lass ma Mache – Bülent rettet Deutceyland" mit seinem humorvoll verpackten Ansatz für mehr soziales Engagement schaffte es bei Sat.1 2019 über eine Folge im Spätprogramm nicht hinaus; "Don't stop the music", das Kindern aus benachteiligten Familien die Chance vermittelte, ein Instrument zu lernen, setzte Ceylan gemeinsam mit dem ZDF um – und erhielt dafür einen Fernsehpreis fürs "Beste Factual"; und den Mix aus Wissenschaft und Comedy ermöglicht nun der SWR, der sich große Bühnen sonst halt nur für Schlager-Shows und "Verstehen Sie Spaß?" leistet, ajooh!
"Sie sind im Grunde noch wie Affen / Und auf dem Weg sich abzuschaffen", singt Ceylan in "Ich liebe Menschen" – und wer weiß, vielleicht besteht noch Resthoffnung, dass auf dem Album auch noch eine ähnlich gelagerte Liebeserklärung ans lineare TV drauf ist. Mit Metal-Anfang natürlich. Und Hochdeutsch-Refrain: Ich liebe Fernsehen / Gibt es doch meistens gute Gründe / Dass man es eher scheiße findet / Doch die Wahrheit ist: / Ich liebe Fernsehen / Ich weiß, dass die es kaum verdienen / Doch ich war auch einer von ihnen.
Vielleicht klappt das mit dem ESC dann ja im nächsten Jahr.
Und damit: zurück nach Köln.
"Babbel net!" läuft in der ARD Mediathek und dienstags nach 23 Uhr im SWR Fernsehen; Ceylans Album "Ich liebe Menschen" erscheint am 1. März.