Erich Schiller hat es gut. Er ist tot. Immer noch. Am 6. Dezember hat er hinter einer zwischendrin verschlossenen Schlafzimmertür das Zeitliche gesegnet. Nicht ganz ohne fremdes Zutun. Wer da seine Finger im Spiel hatte, war lange unklar. Jetzt ist raus, wer es war, aber Erich Schiller ist immer noch tot. Er hat es immer noch gut. Er muss die „Lindenstraße“ nicht mehr anschauen.

Es war die Jubiläumsfolge (1559) zum 30. Geburtstag, die der „Lindenstraße“ mit Erichs überraschendem Tod einen weiteren Kriminalfall bescherte. Große Worte wurden vorher schon in der ARD gesprochen, vom Wert der „Lindenstraße“ faselte man. Es war ein kleiner Höhepunkt, dieses Jubiläum, aber dahinter ging es schnell wieder in die Tiefe, in die Ebene, wo die alltäglichen Mühen lauern.

Und die mangelnde Wertschätzung der Auftraggeber. Zweimal hintereinander haben sie die „Lindenstraße“ wegen einer Handballübertragung aus dem Ersten verbannt und ins hauseigene Digitalparadies von Einsfestival abgeschoben. Kann man machen.

Unter den Abgeschobenen war auch die Folge 1566, in der am vergangenen Wochenende endlich herauskam, wer Erichs Tod befördert hatte. Beide Folgen werden an diesem Sonntag vor der nächsten im Ersten wiederholt.

Man kann also als Fan wissen, wer es war, aber für jene, die sich dem Digitalen und den Möglichkeiten der Mediathek verweigern wollen und der „Lindenstraße“ nur im Ersten folgen mögen, soll hier nicht alles verraten werden. Nur das, was man in der ARD-Programmvorschau lesen kann, also dass die Beimer-Enkelin Lea unter schweren Verdacht gerät.

Das Abschiebungskuddelmuddel und die Wiederholungen bieten indes einen schönen Anlass, noch einmal den Blick zu verengen auf das, was nach der Jubiläumseuphorie übrig blieb, und dann ist vielleicht auch noch von Interesse, was die „Lindenstraße“ weiterhin so typisch unerträglich macht. Ein Blick auf die Zeit nach Erichs Tod.

Es sind vor allem diese hölzernen Sätze, die den Schauspielern dort regelmäßig in den Mund gestopft werden, auf dass sie hinterher zum richtigen Zeitpunkt herauspurzeln mögen. „Erich und Lea waren doch so gut miteinander. Und wenn er sie kritisiert hat, dann doch nur, weil er sie geliebt hat“, sagte Helga „Mutter“ Beimer schon in Folge 1564. Da glaubt sie noch an Leas Unschuld, aber dann kommt dieser Hajo daher, gräbt irgendwas im Wald aus, und kurz danach findet sich Erichs verloren geglaubtes Handy in Leas Tasche wieder.

Das Schlimme daran ist nicht nur das Hölzerne der Dialoge, das Schlimme ist vor allem, dass der Zuschauer mehr weiß als die Handelnden. Aber er kann nichts tun. Er muss ohnmächtig zusehen, wie alles noch einmal eine Runde weitergedreht wird.

„Wir sollten die Polizei rufen“, sagt Hajo irgendwann, und dann gucken alle betroffen. „Soko Wismar“ und ähnliche Machwerke lassen da sehr deutlich grüßen.

Es weht immer noch der Staub der Sechziger durch diese Serie. Auch wenn man sich sichtlich modern geben will und im Abspann einer Januarfolge Lemmy von Motörhead noch mal aus dem Jenseits grüßen lässt. „Don’t forget us, we play rock’n’roll“, hat er gesagt, aber das half nur, um noch einmal in Erinnerung zu rufen, wie groß nach wie vor die Distanz der „Lindenstraße“ zu allem Leichten und Lockeren ist. Niemals war die „Lindenstraße“ Rock’n’Roll. Immer war sie allenfalls schlechter deutscher Schlager. Vielleicht kam mal eine Spur unausgegorener Krautrock vor, aber das war dann auch schon das höchste der Gefühle. Immer schon tat sich in dieser Serie der größtmögliche Abgrund auf zwischen Ambition und Performance.

„Ich muss das jetzt alles erstmal verstehen, was passiert ist heute und die letzten Wochen“, sagt Mutter Beimer irgendwann, und dann kommt sie noch zu einem Satz, den im richtigen Leben so eigentlich nie jemand sagt, der aber genau deshalb alles sagt. „Willst du Zwietracht zwischen uns säen“, fragt sie, aber das ist natürlich eine rhetorische Frage, denn genau darum geht es in der „Lindenstraße“: Zwietracht säen.

Es geht um ein ewiges Drama-Duett, es geht um streiten und versöhnen, um versöhnen und streiten. Zwischendrin wird dann noch eine kleine Verschwörung eingefügt, und dann folgt die Eskalation. Am Ende müssen sich alle bei allen entschuldigen, außer vielleicht jene, die für den nächsten Streit, die nächste Versöhnung, die nächste Eskalation zuständig sind.

Nachdem Erich Schillers Tod nun aufgeklärt wurde und das SEK abgezogen ist, muss Gabi durchdrehen. „Gabi kann einen aber auch verrückt machen“, sagt Andy. Aber da weiß man schon, dass sie weiterhin allen auf den Senkel gehen wird. „Du weißt doch, was los ist mit den ganzen Terroristen“, hat sie in Folge 1565 schon gesagt, was auf die nächste Eskalation hindeutet.

Man kennt das aus vielen Jahren „Lindenstraße“-Geschichte, aber inzwischen scheint es, als seien Begriffe wie Ruhe und Gelassenheit in die Fremdwortabteilung verbannt.

Gabi muss jetzt eskalieren. Sie hat ein komisches Gefühl. Gegen das hilft auch ein Machtwort von Andy nicht. „Jetzt ist Schluss mit deinem komischen Gefühl“, hat er gesagt.

Nein, es ist nicht Schluss mit diesem komischen Gefühl. Die „Lindenstraße“ geht weiter. Noch. Und sie ist nicht zu beneiden. Es ist halt wahrlich eine Aufgabe, immer wieder alle Dramen dieser Welt in eine Serie gießen zu müssen und dafür zu sorgen, dass sie dabei in der Summe stets höchstens so aufregend bleibt wie ein verschütteter Liter Milch. Alles so unfassbar öde, alles so unfassbar vorhersehbar. Wer das für modern hält, leidet unter Wahrnehmungsstörungen oder verdient sein Geld mit eben solchen Defiziten seiner Kunden.

Wie die Serie, so mutet übrigens auch die Programmpolitik der ARD an. Man will der Serie dort offensichtlich schaden. Anders ist das ganze Kuddelmuddel um die Verschiebung ins Digitale und den jetzt vorgesehenen Rücktransport ins Erste kaum zu verstehen. Es ist ein Zeichen, dass da in der ARD welche sind, die der „Lindenstraße“ nicht länger wohl wollen.

Würden sie die „Lindenstraße“ wirklich wollen, hätten sie an diesem Sonntag eine kleine Binge-Watching-Strecke eingerichtet. Drei Folgen am Stück. Das wäre ein feiner Anlass gewesen, sich zu versammeln und der Serie zu huldigen.

Was aber machen sie im Ersten? Sie programmieren die zwei schon bekannten Folgen am Nachmittag (ab 16.30 Uhr), und dann lassen sie geschlagene 80 Minuten Pause, bevor die Frischware auf den Sender gehen darf. Liebevoller Umgang sieht anders. Aber Liebe bekommen sie nicht hin im Ersten, weil sie zwar verzweifeln an in Eisen gegossenen Sendeplatzvorgaben, aber die Energie, sich gegen diese vermeintlichen Gottgegebenheiten aufzulehnen, bringen sie dann doch nicht auf.

Um es nochmal deutlich zu sagen. Ich bin im Prinzip der Letzte, der die „Lindenstraße“ verteidigen möchte. Ich neige dazu, „Lindenstraße“-Fans zum Optiker oder Akustiker zu schicken, aber ich finde es trotzdem erschreckend, wie unbeholfen man hier mit einem Produkt umgeht, das man offiziell zu lieben vorgibt. Bei so etwas höre ich sehr deutlich die Totenglöckchen klingeln, und sie sagen mir, dass es sehr bald noch sehr schwierig werden wird für die „Lindenstraße“. Erich Schiller hat es da besser. Der ist schon tot.