Die USA haben eine lange und geschätzte Serientradition im Fernsehen. Warum sind serielle Erzählungen nun auch weltweit das Maß für das Geschichtenerzählen?

Es ist sehr befriedigend, in einem Universum zu leben, das jemand anderes erschaffen hat. Der Luxus einer Serie, die über viele Stunden hinweg weiterläuft ist, dass man eine Hintergrundgeschichte erschaffen kann, und dieses Universum einfach immer weiterwächst. Figuren kommen und gehen, es ist fast so, wie in einem epischen Roman von Charles Dickens. Die Vorstellung, mit diesen Menschen viele Jahre seines Lebens zusammenzuleben ist sehr beruhigend.

Geht es ihnen auch persönlich so?

Für mich war „Mad Men“ ein großartiges Beispiel dafür. Ich habe die Serie geschaut und erlebt, wie diese Charaktere über zehn Jahre hinweg heranwuchsen. Es war, als ob ich sie persönlich kennen würde. Es war eine Art Bestimmungsort am Sonntagabend, als es im Fernsehen lief. Ein netter Ort – obwohl er eigentlich alles andere als nett war, eher verstörend. Aber er war vertraut, und ich liebte es, in diese Welt einzutauchen. Zu wissen, dass es so noch Jahre weitergehen würde, war tröstlich.

Doch irgendwann endet alles.

Ich muss daran denken, als ich einmal in New York in der U-Bahn saß und jemanden sah, der „Interview mit einem Vampir“ las. Ich wurde eifersüchtig auf diese Person, denn ich erinnerte mich daran, wie ich das Buch gelesen und geliebt hatte und mir diese Erfahrung wieder herbeigewünscht habe, als es vorbei war. Aber das ging nicht, es war vorbei – und dann kam das nächste Buch heraus. So ist es nun einmal.

Sie haben Matthew Weiner erwähnt, der mit „Mad Men“ einen Boom von historischen Dramaserien ausgelöst hat, die in einer bestimmten Ära des 20. Jahrhunderts spielen. Nach den „Sopranos“ haben sie ihre Serie „Boardwalk Empire“ während der Prohibitionszeit in den 20er Jahren angesiedelt. Inwieweit können solche Serien über Geschichte aufklären und darlegen, wie sich die Gesellschaft entwickelt und verändert hat?

Eines der Dinge, auf die ich bei „Boardwalk Empire“ sehr stolz bin, ist die Tatsache, dass ich Menschen Fakten über die Vereinigten Staaten während der Prohibitionszeit näherbringen konnte, oder solche Dinge wie Frauenwahlrecht und die Reproduktionsrechte von Frauen und den Ersten Weltkrieg. Gerade in politischer Hinsicht gab es viele Dinge, die den Zuschauern nicht bewusst waren, besonders den jungen. Ich werde gefragt, ob es wirklich wahr ist, dass Verhütung in den zwanziger Jahren illegal war oder dass das Frauenwahlrecht erst 1920 eingeführt wurde. Alles ist natürlich wahr.

Steckt noch mehr dahinter?

Die andere wundervolle Sache an „Boardwalk Empire“ ist die Möglichkeit, durch ein historisches Drama die Gegenwart zu spiegeln. Die Drogengeschäfte von heute sind prinzipiell nichts anderes als das Alkoholgeschäft in den Zwanzigern. Es war eine illegale Substanz, die Menschen zu sich nehmen, ob nun illegal oder nicht. Und die Gangster verdienten mit dem Verkauf tonnenweise Geld, genauso wie im heutigen Drogengeschäft.

Und abseits des organisierten Verbrechens?

In den USA diskutieren man seltsamerweise immer noch über die Evolution. 1924 gab es einen sehr bekannten Fall eines Lehrers, der verhaftet wurde, weil er in der Schule die Evolutionstheorie lehrte – und hier sind wir hundert Jahre später und führen diese Debatte immer noch! Alle Geschichten, die wir in der Serie erkundet haben, spiegeln sich in unserer gegenwärtigen Gesellschaft.

Dabei kommt uns diese Ära so weit entfernt vor.

Die Menschen der 1920er schauten sich auch Filme an, sprachen am Telefon, reisten und gingen in Restaurants, es sieht alles also gar nicht so sehr anders aus. Selbst die Mode kann man heute wieder tragen. Es war also ein raffinierter Kommentar zu Gegenwart durch ein historisches Drama von vor hundert Jahren.

Ihre Serie „Vinyl“, die sie zusammen mit Martin Scorsese und Mick Jagger erschaffen haben, spielt in der Musikindustrie der 70er Jahre, allerdings hat der Sender nach der Ausstrahlung der ersten Staffel aufgrund der schwachen Zuschauerzahlen den Stecker gezogen. Der Hauptcharakter Richie Finestra ist wieder so ein männlicher Anti-Held, der mit seinem Leben und seiner Arbeit hadert. Viele der nun populären Serien haben weibliche Hauptcharaktere oder Ensembles wie in „Game Of Thrones“, könnte das Finale von „Mad Men“ das Ende dieses männlichen Anti-Helden markiert haben, der so faszinierend war, als „Die Sopranos“ ihn etabliert haben?

Ich stelle mir diese Entwicklung wie ein Pendel vor, das vor- und zurückschwingt. Ich mag diese Art von Charakteren einfach. Menschen die in den Außenbezirken der vornehmen Gesellschaft leben, waren für mich immer die interessanteren. Sie sind wohl in gewisser Weise Antihelden und man folgt den Handlungen von jemandem, der keine nette Person, oder zumindest sehr kompliziert, ist. Richie Finestra ist ein gutes Beispiel: Ein Drogenabhängiger, der die Menschen um sich herum missbraucht, eine Art Verrückter. Ich finde das interessanter. Helden kommen in vielen verschiedenen Formen daher, vor 50 oder 60 Jahren war es der gute Typ, dann war es in „Die Sopranos“ plötzlich der Gangster, der interessant war.