Frau Rashidi, die britische Presse hat "Gangs of London" als beste Serie des Sommers gelobt, aber auch als "most violent British drama ever" bezeichnet. Sollte man den Konsum mit einer Gewaltwarnung versehen?

"Gangs of London" ist nichts für Weicheier. Menschen, die zart besaitet sind, würde ich eher davon abraten. Zum Glück sind die Geschmäcker verschieden. Ich hatte als Zuschauerin großen Spaß, die fertige Serie zu sehen. Mit dem Wissen, dass es fiktional ist, kann ich es nicht nur gut aushalten, sondern genieße diese seltene Kombination aus so viel intensivem Drama und so viel harter Action. In dieser Mischung habe ich das noch nicht oft gesehen, geschweige denn selbst gespielt.

Die Serie basiert lose auf dem gleichnamigen Playstation-Game. Haben Sie das auch mal gespielt?

Nein, ich bin überhaupt keine Gamerin. Bei mir hat es mit Tetris auf dem Nintendo aufgehört. Als Zehnjährige war ich so süchtig danach, dass mein Papa es heimlich verschwinden ließ. Seitdem habe ich kein Spiel mehr angefasst.

"Gangs of London" war eine äußerst aufwendige Produktion mit 175 Drehtagen an fast 100 verschiedenen Drehorten in und um London. Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Eindruck von den Ausmaßen?

Ich dachte nur: Wow, ist das riesig! Ich hatte noch nie an einer so großen Produktion mitgewirkt. Am Ende waren an die 700 Menschen daran beteiligt. Als ich zur ersten Leseprobe kam, war ich total überwältigt. Da saßen über 100 Leute in einem riesigen Raum – Schauspieler, Poduzenten, Regisseure, Heads of Departments. Mit der Zeit gewöhnt man sich dran, das Muffensausen geht weg.

Die Rolle der Lale – eine kurdische Bandenchefin, die mit Heroinschmuggel den Kampf der PKK finanziert – gibt Ihnen die Möglichkeit, sich im doppelten Sinne auszutoben: mit harter, physischer Action und einem ziemlich vielschichtigen Charakter. Eine Traumrolle?

Es gibt starke Frauenfiguren im Fernsehen – und dann gibt es Lale. Wir reden hier von einem ganz anderen Level. Ich hatte extrem viel Spaß, auch wenn es körperlich Hardcore war. Ich hatte jede Menge Box-, Schieß-, Martial-Arts- und Self-Defense-Training und bin echt an meine Grenzen gegangen. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das auf den Abenteuerspielplatz darf. Aber ich habe auch viele blaue Flecken und dicke Knie davongetragen. Gleichzeitig habe ich zur Vorbereitung intensiv über die kurdische Kultur und Geschichte recherchiert und – da ich ja eine Mafia-Bossin spiele – auch viel über die echte Londoner Unterwelt mit ihren verschiedenen Gangs gelesen. Die größte Herausforderung war für mich die psychologische Seite. Damit man mir abkauft, dass ich als Frau in einer so männerdominierten Welt funktioniere und sogar gegen gewisse Männer gewinne, musste ich die Figur extrem stark und überzeugend anlegen.

Sie spielen Lale so facettenreich, dass man sie je nach Perspektive als Verbrecherin und Terroristin oder als Heldin und Wohltäterin sehen kann. 

Gangs of London© Sky UK
Diese Figur ist schon hervorragend geschrieben. Darauf aufbauend habe ich versucht, sie aus vielen verschiedenen Schichten zusammenzusetzen. Mir war es wahnsinnig wichtig, einen echten Menschen zu erschaffen. Und Menschen, egal wie hart sie nach außen sein mögen, haben nun mal innere Gefühle und verletzliche Stellen. Solche Gegensätze faszinieren mich. Lale kämpft nicht für ihr persönliches Glück und Wohlergehen, nicht für eine goldene Rolex oder ein fettes Auto, sondern für das große Ganze, für ihr Land und ihre Leute. Sie beliefert die kurdischen Freiheitskämpfer mit Waffen, Medizin und Nahrung. Ich finde, Figuren sind dann am spannendsten, wenn man dem Zuschauer keine Bewertung aufdrückt, sondern ihm selbst überlässt, wie er sie bewerten will.

Sie haben extra für die Rolle Kurdisch gelernt?

Mein Casting fand noch auf Englisch und Türkisch statt. Als ich dann den Showrunner Gareth Evans traf, habe ich ihn darauf angesprochen, dass Lale laut Drehbuch ja eigentlich Kurdin ist. Er meinte: Wäre toll, wenn du das machen könntest. Ich habe das Glück, dass ich einen schnellen Zugang zu Sprachen finde. Das liegt wohl daran, dass ich als gebürtige Iranerin dreisprachig aufgewachsen bin – mit Farsi, Deutsch und Englisch – und als Kind ein Jahr in der Türkei gelebt habe, bevor wir nach Deutschland kamen. Für meine Rolle in "Tigermilch" zum Beispiel musste ich Irakisch lernen. Das heißt natürlich nicht, dass ich plötzlich die komplette Sprache spreche – ich lerne sie phonetisch, so wie ich ein Lied lernen würde. Was mich total freut: Als "Gangs of London" in Großbritannien lief, haben mir viele kurdische Fans geschrieben, ob ich wirklich Kurdin sei. Mehr kann man sich nicht wünschen.

Da Sie in Hollywood, Großbritannien und Deutschland arbeiten, haben Sie ja einen guten Vergleich: Welcher Markt behandelt seine Schauspieler am besten?

Ich habe das Gefühl, dass die Briten Schauspieler an sich außerordentlich schätzen. Man hat dort unabhängig vom Starlevel ein anderes Standing als in den USA oder Deutschland. Natürlich ist es von Set zu Set unterschiedlich, weil der jeweilige Regisseur die Atmosphäre schon entscheidend prägt. Bei "Gangs" waren alle drei Regisseure unfassbare Gentlemen und sehr kooperativ in ihrer Arbeit mit den Schauspielern. Ich liebe es, wenn viel von mir verlangt wird, ich aber eben auch für voll genommen werde.

"Die Uhr für den deutschen Markt hat inzwischen viertel nach zwölf geschlagen"
Narges Rashidi 

 

Wäre ein so großes, komplexes, zeitgenössisches Projekt wie "Gangs of London" auch in Deutschland denkbar?

Es wäre so schön, wenn wir in Deutschland so große internationale Projekte hätten. Ich glaube schon, dass wir das Zeug dazu hätten. Eine Produktion wie "Babylon Berlin" hat das ja gezeigt, wenn auch noch nicht mit einem zeitgenössischen Stoff. Durch die Streamer wird das sicher immer mehr zum Thema. Wir haben tolle Regisseure, Autoren und Schauspieler. Es gibt allerdings ein hausgemachtes Problem, an dem wir dringend arbeiten müssen.

Nämlich?

Ich würde mir wirklich wünschen, dass in Deutschland endlich bunter besetzt wird – und zwar ganz selbstverständlich, nicht so voller Klischees. Weil das schlicht und ergreifend dem realen, modernen Deutschland entsprechen würde. Wenn man heute durch Berlin, Hamburg oder München geht – ach, selbst durch Bad Hersfeld, wo ich aufgewachsen bin – dann sieht man ein viel bunteres Stadtbild als im fiktionalen deutschen Fernsehen. Da hat die Uhr für den deutschen Markt inzwischen viertel nach zwölf geschlagen. Durch mehr Vielfalt würden deutsche Produktionen automatisch auch mehr internationales Flair bekommen.

Woran liegt es Ihrer Erfahrung nach, dass das deutsche Fernsehen in dieser Hinsicht so rückschrittlich ist?

Bei manchen Besetzungsgesprächen hört man immer noch die Ansage: Wenn schon ein Schauspieler mit migrantischer Herkunft oder nicht-weißer Hautfarbe drin ist, kann es keinen zweiten geben. Das finde ich völlig absurd. Niemand von uns ist doch im Jahr 2020 ausschließlich von blonden, blauäuigen Menschen umgeben. Ich mache den Job seit 17 Jahren und habe bisher nicht zu denen gehört, die sich lautstark äußern. Ich habe immer gedacht: Du musst geduldig sein, noch härter arbeiten und noch besser werden. Aber irgendwann kommt der Punkt, da reicht's. Langsam kann ich nicht mehr anders, als es persönlich zu nehmen. Wenn wir derzeit eines überdeutlich spüren, dann ist es doch, dass die ganze Welt – aber eben auch Deutschland – aktiv gegen Rassismus und Ausgrenzung eintreten muss. Als Film- und Fernsehschaffende tragen wir eine enorme Verantwortung. Wir können Trends setzen, Möglichkeiten aufzeigen und zum Weltbild unserer Zuschauer beitragen. Wer das immer nur in eine Richtung tut, wird seiner Verantwortung nicht gerecht.

Nehmen wir mal Ihre letzte deutsche Serienrolle – die Kriminaltechnikerin Samira Vaziri in der ZDF-Vorabendserie "Die Spezialisten – Im Namen der Opfer", die Sie zwischen 2016 und 2018 gespielt haben. Positiv- oder Negativbeispiel?

Das war tatsächlich einer der ganz seltenen Fälle, wo die Herkunft der Figur keine Rolle spielte. Dass sie dort im Labor arbeitet, hat einfach eine Selbstverständlichkeit und wird nicht problematisiert. Deshalb habe ich die Rolle dankbar angenommen und gern gespielt. Davon müssten wir viel mehr haben.

In dem Kinofilm "Tigermilch" wiederum haben Sie 2017 die irakische Krankenschwester Noura Bashir gespielt, die als Asylbewerberin von der Abschiebung aus Deutschland bedroht ist. Ein hochgelobter Film mit einem wichtigen Thema.

Narges Rashidi© Tom Wagner
Natürlich gibt es wichtige Geschichten, in denen das Fremdsein mit Problemen behaftet ist. Geschichten, die erzählt werden müssen. "Tigermilch" gehört dazu. Es kommt entscheidend darauf an, wie eine Rolle geschrieben ist: Darf die Ausländerin, die ich spielen soll, ein dreidimensionaler Mensch mit Ecken und Kanten sein oder ist sie nur die Dunkelhaarige mit Kopftuch, die irgendwo im Hintergrund ein paar Klischees bedient? Abgesehen davon möchte ich als deutsche Schauspielerin in Deutschland nicht zu 99 Prozent solche Figuren angeboten bekommen, sondern auch als Frau wahrgenommen werden. Ich bin Tochter, Ehefrau, Freundin, ich habe einen Beruf und ich habe innere Konflikte. All das kann und will ich spielen und nicht nur in eine Schublade gesteckt werden.

"Es würde mir viel bedeuten, wenn ich genauso anspruchsvolle Rollen auch auf Deutsch spielen könnte"
Narges Rashidi

 

Wie optimistisch sind Sie, dass sich daran in naher Zukunft etwas ändert?

Ich habe gerade ein paar sehr interessante Angebote aus Deutschland auf dem Tisch liegen, die in gewisser Weise Hoffnung machen. Der Wandel lässt sich nicht dauerhaft aufhalten, wenn vor allem junge Zuschauer ihn einfordern und Streaming-Plattformen dem folgen. Das fordert viele traditionelle Strukturen heraus. Auf einem Berlinale-Empfang bekam ich dieses Jahr mit, wie eine Agentin darüber stöhnte, dass jetzt plötzlich so viele Schauspieler mit anderen Hautfarben gefragt seien. Zu mir sagte sie dann: Für dich ist das bestimmt toll! Ich fühlte mich in dem Moment an eines meiner ersten Agentengespräche in Los Angeles erinnert. Damals hieß es: Wir werden viele Jobs für dich haben, weil Terroristen-Rollen sehr gefragt sind. Seither hat sich hier im US-Markt viel getan. Auch Hollywood hat natürlich noch immer ein Rassismusproblem, das ja gegenwärtig heftig diskutiert wird. Aber in puncto On-Screen-Representation, also bunte Besetzungen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, ist man dem deutschen Markt um Lichtjahre voraus.

Theoretisch wären Sie auf den deutschen Markt längst nicht mehr angewiesen, da Sie in Hollywood, London und anderswo sehr gefragt sind.

Ja, ich lebe jetzt seit neun Jahren in Los Angeles. Und ja, ich fühle mich immer ein bisschen wie ein Hybrid. Aber der größte Teil meines Seins ist doch ziemlich deutsch. Deutschland ist das Land, in dem ich aufgewachsen bin, und Deutsch die Sprache, die ich am besten beherrsche. Meine Familie und viele Freunde leben dort, ich habe nach wie vor eine große emotionale Bindung zu Deutschland. Daher würde es mir viel bedeuten, wenn ich genauso anspruchsvolle, vielschichtige Rollen auch auf Deutsch spielen könnte.

Frau Rashidi, herzlichen Dank für das Gespräch.

"Gangs of London" läuft donnerstags ab 21:15 Uhr in Doppelfolgen auf Sky Atlantic HD. Die komplette Staffel ist bei Sky Ticket, Sky Go und Sky Q abrufbar.

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