Herr Finke, vor sechs Jahren ist Netflix in Deutschland angekommen, aber jetzt erst so richtig zuhause. Ihr Team in Berlin wächst in diesen Wochen, bislang lief ja noch viel über Amsterdam.

Wir sind über die Jahre schrittweise immer ein Stückchen mehr angekommen in Deutschland. Aber die Wahrnehmung ist nicht ganz verkehrt: vor allem seit Ende letzten Jahres arbeitet ein stetig wachsendes Team in unserem Berliner Büro. Einige Kolleginnen und Kollegen sind hierfür extra von Amsterdam nach Deutschland gezogen, andere haben wir gezielt für den Standort Berlin eingestellt. Ich selbst bin seit Anfang 2015 bei Netflix. Damals waren wir in vielen Ländern der Welt noch gar nicht verfügbar und ich pendelte viel zwischen Los Angeles und dem europäischen Hauptquartier in Amsterdam. Da ich den Bereich Akquisition und Koproduktion in dieser Zeit mitunter für mehrere europäische Märkte gleichzeitig koordiniert habe, empfand ich die Vielfalt meiner Gespräche zum Beispiel bei Messen und Festivals immer als super spannend.



Ihr Name war für viele Produzenten der erste greifbare Kontakt von Netflix in Europa.

Wobei ich es als großes Glück betrachte, so viele Länder und Produktionen kennengelernt zu haben. Auch meine Zeit in Los Angeles hat nochmal neue Perspektiven gebracht. Inzwischen konzentriere ich mich aber fast ausschließlich auf einen Teil unserer Filmprojekte, serielle Koproduktionen und das Lizenzprogramm im deutschsprachigen Raum. 

Wenn wir über Lizenzierung und Koproduktion reden, dann bleiben angesichts der eigenen SVoD-Angebote der beiden Privatsender-Gruppen vermutlich die Öffentlich-Rechtlichen ihre prädestinierten Partner?

Wir sind in alle Richtungen offen zur Zusammenarbeit. Es gilt beim komplexen Windowing ohnehin bei jedem Projekt individuell zu klären: Wer darf wann wo was zuerst und wer trägt wie viel zum Budget bei? Das funktioniert, wie Sie richtig beobachten, bisher sehr gut mit öffentlich-rechtlichen Partnern. Aber dass „Kidnapping Stella“ im vergangenen Jahr den Weg zu Netflix gefunden hat, wäre ohne konstruktive Gespräche mit ProSiebenSat.1 nicht möglich gewesen. Und wenn Sie bei RTL das große Ganze betrachten, also die RTL Group mit Fremantle bzw. der UFA in Deutschland, so gibt es auch dort viele gute Anknüpfungspunkte.

Über Kai Finke

  • Kai Finke ist seit Januar 2015 an Bord bei Netflix, agiert als Director Content Acquisitions & Co-Productions DACH/CEE. Auf dem Parkett des Rechte-Handels bewegte er sich zuvor schon für Telepool, Vodafone und beinahe Germany's Gold, dem vom Kartellamt gestoppten VoD-Projekt von ARD und ZDF. Aufgewachsen ist er im "schönsten Vorort Hamburgs", wie er sagt - der Nordseeinsel Sylt.

Sie sprechen den ersten Filmeinkauf von Netflix in Deutschland an. Welche Rolle spielt der Film für einen Dienst, der gemeinhin für Serien steht?

Es ist schon interessant, wie sehr Netflix vor allem in Deutschland als Serienangebot wahrgenommen wird. Dabei sorgen doch Netflix Original Filme wie „Birdbox“, „The Irishman“ oder „Roma“ bereits seit einiger Zeit International für viel Gesprächsstoff.  Und auch in Deutschland bauen wir konsequent das Portfolio an Filmprojekten aus. Letztlich entspricht das doch auch dem Programmbedarf, da man sich ja nicht immer auf eine ganze Serienstaffel einlassen kann, sondern manchmal auch einfach nur gute Unterhaltung für einen Abend sucht. Denken Sie auch an Familien: Da ist es gemeinsam vor dem großen Bildschirm einfacher, sich auf einen Film zu verständigen als auf eine Serie. Oder Paare schauen eine Serie gemeinsam, was Filme zum idealen Ersatz machen, wenn einer von beiden mal nicht da ist, um die Serie weiter zu schauen. Kurzum: Natürlich spielt auch der Film für unsere Zuschauer eine wichtige Rolle.

Und da wollen Sie ein Angebot machen?

Netflix will Unterhaltung für jede Gelegenheit bieten. Gerade in den nächsten Monaten werden wir bei der Vielfalt an Programmen, Genres und Formaten noch einmal zulegen. Hinzu kommt, dass bis Ende 2021 allein aus meinem Bereich bis zu sechs Filmprojekte in Produktion gehen werden. Und zu diesen kommen dann noch weitere Produktionen hinzu, die meine Kollegin Sasha Bühler betreut. So wird sich die Anzahl der Netflix Original Filme made in Germany spürbar steigern.

Sie reichen den Verleihern auch die Hand, wenn ein Film nicht wie geplant im Kino ausgewertet werden kann: „Berlin, Berlin“ ging direkt zu Netflix. Erweisen Sie dem Kino damit nicht einen Bärendienst?

Wir sind offen dafür, Verleihern und Produktionsfirmen in der aktuellen Situation zu helfen. Bei “Berlin, Berlin” ist uns das bereits gelungen, zumal wir in diesem Fall unseren Zuschauern auch die Serie mit anbieten konnten. Es ist Bewegung im Markt, wie gerade erst wieder die Entscheidung von Disney zu „Mulan“ gezeigt hat. Wir verstehen natürlich, dass man das Thema so oder so sehen kann, aber für Filmschaffende ist es wichtig, mit ihren Produktionen ein Publikum zu finden und da stellt unsere Reichweite für die Veröffentlichung von Filmen eine spannende Alternative dar.

"In den nächsten Monaten werden wir vielleicht noch den einen oder anderen Film herausbringen, der nicht ursprünglich für Netflix produziert wurde"

Als Signal nehme ich mit: Sie sind grundsätzlich in Kauflaune?

Zu unserem Bekenntnis zum Film gehören künftig vermehrt Originalproduktionen wie „Betonrausch“ und „Isi & Ossi“ oder auch Koproduktionen. So kommt ja schon am 2. September unser nächster Film: „Freaks - Du bist eine von uns“ raus. Der Titel ist unter der Regie von Felix Binder in Zusammenarbeit mit der Redaktion Kleines Fernsehspiel beim ZDF entstanden. Aber auch für Akquisitionen bleibt die Hand ausgestreckt, übrigens auch unabhängig von Corona wie wir schon 2019 mit der Veröffentlichung von “Kidnapping Stella” gezeigt haben. Der Film wurde allein im ersten Monat von 18 Millionen Netflix-Haushalten gesehen. Und auch in den nächsten Monaten werden wir vielleicht noch den einen oder anderen Film herausbringen, der nicht ursprünglich für Netflix produziert wurde.

Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie denn auf die deutschen Netflix-Projekte? Wie sehr hat das ihren Zeitplan durcheinander geworfen?

Bei einem Film mussten die Dreharbeiten vorübergehend unterbrochen werden, andere Projekte haben wir geschoben. Den nächsten Film - mit dem Titel „Schwarze Insel“ - drehen wir nach jetzigem Stand ab Herbst an der Nordseeküste. Hierbei handelt es sich um ein Projekt nach einem Drehbuch von Miguel Alexandre und Lisa Hofer, bei dem Miguel auch Regie führt. Eine der Hauptrollen spielt Alice Dwyer, mit dabei ist aber auch Mercedes Müller, die unsere Zuschauer zum Beispiel bereits aus „Freud“ kennen und die auch bei „Oktoberfest 1900“ mitspielt.

Die neue ARD-Serie bringt Netflix international heraus…

Das ist richtig. Das Oktoberfest ist eine Weltmarke und wir freuen uns sehr über die Akquisition dieser Serie von Hannu Salonen. Wir werden „Oktoberfest 1900“ global verfügbar machen, aber auch die Zweitverwertung in Deutschland nach der Ausstrahlung in der ARD ist nicht uninteressant.

Wenn Netflix für den deutschen Markt die Zweitverwertung übernimmt, wie kurz nach der Premiere muss es bei Ihnen landen, damit ein Deal noch attraktiv ist für Sie?

Bei „Freud“, von Bavaria und Satel für den ORF und uns produziert, begann die Zweitverwertung durch Netflix einen Tag nach Ausstrahlung der letzten Folge im ORF. Wir haben in Deutschland dann auch bis zu diesem Datum gewartet, um die Serie gleichzeitig weltweit herauszubringen. Bei “Parfüm“ von Constantin Film waren wir wiederum bereit nach der Premiere im ZDF neun Monate auf die Wahrnehmung des zweiten Fensters zu warten. Irgendwo dazwischen muss es sich bewegen, wenngleich grundsätzlich kürzere Holdbacks natürlich wünschenswert wären. Bei „Oktoberfest 1900“ ist es uns wichtig, dass der Titel international so bald wie möglich starten kann. Eine Serie mit dem Wort „Oktoberfest“ im Titel sollte schließlich auch zur Oktoberfest-Zeit verfügbar sein.

Und in Deutschland?

Da wird „Oktoberfest 1900“ voraussichtlich auch noch dieses Jahr bei uns verfügbar sein, aber erst später.

Ist das deutsche Fernsehen ihrer Meinung nach eigentlich besser geworden durch Netflix?

In Deutschland sind schon großartige Serien entstanden bevor Netflix kam, wenn man zum Beispiel an „Im Angesicht des Verbrechens“, „Weissensee“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“ denkt. Das war schon eine Trendwende hin zu horizontalen Erzählformen. Das Talent zum Storytelling war also bereits da. Aber zur veränderten Nachfrage nach horizontalen Stoffen haben wir ganz sicher beigetragen und wir freuen uns, wenn wir Kreativen aus dem deutschsprachigen Raum eine internationale Bühne geben können und Serien wie „Dark”, „How to sell drugs online (fast)“ oder „Unorthodox“ gleichermaßen Fans und Auszeichnungen sammeln.

Die internationalen Streamingdienste sahen sich zuletzt Kritik von einigen deutschen Produzenten ausgesetzt, dass man mit Exklusiv-Deals Talent vom Markt kauft, obwohl man selbst wenig getan hat für den Standort - Stichwort Filmförderung oder Nachwuchsarbeit. Was entgegnen Sie?

Kai Finke: Wir tun der Kreativität und Diversity am Standort Deutschland doch grundsätzlich eher gut, weil wir mit anderen Geschichten und Perspektiven ein zusätzliches Auftragsvolumen in den Markt bringen. Und der Markteintritt von neuen Playern, nicht nur von uns, hat sich auch auf die vorhandenen Marktteilnehmer durchaus belebend ausgewirkt. Insofern stehen Film- und Fernsehschaffenden doch im Grunde heute mehr denn je ganz verschiedene Türen offen. Mit unserem stetig wachsenden Team in Berlin  wollen wir künftig noch ansprechbarer sein, auch für den Nachwuchs und die Filmhochschulen.

Herr Finke, herzlichen Dank für das Gespräch