Herr Koch, von "Bridgerton" bis "Emily in Paris" scheinen zurzeit eher wohlige Netflix-Serien angesagt zu sein. Ist das der richtige Zeitpunkt, um mit einer der düstersten Dystopien deutscher Herkunft aufzuwarten?

Tribes of Europa © Netflix/Gordon Timpen Philip Koch (r.) bei der Arbeit
Ich glaube, die Zeit ist total richtig. Man kann die Serie auf verschiedene Weisen sehen. Die meisten Zuschauer werden sie vermutlich als große Action-Saga wahrnehmen, die man mit Popcorn auf der Couch bingen kann, ohne dabei zwangsläufig über die Zukunft von Europa nachzudenken. Oder man kann sie eben mit genau diesem Subtext sehen, wenn man weniger eskapistisch veranlagt ist. Mein ursprünglicher Anstoß zu "Tribes of Europa" war tatsächlich die Sorge um den europäischen Gedanken nach dem Brexit-Referendum. Aber ich will niemandem vorschreiben, die Serie mit meinem humanistischen Impetus zu interpretieren. Wie das Ergebnis auf den Rezipienten wirkt, sollte immer entkoppelt von der Absicht des Erschaffers sein. Anders als Sie empfinde ich es zum Beispiel auch nicht als "düstere Dystopie".

Sondern?

Ich glaube wirklich, dass wir in diesem Jahrhundert – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit – an einem Punkt stehen, wo wir uns existenzielle Fragen über die Zukunft des Lebens, der Welt und der Gesellschaft stellen müssen. Es geht richtig um die Wurst, um es mal lapidar auszudrücken. Und das spiegelt meine Serie in jedem einzelnen Erzählstrang wider. Es geht um Leben und Tod, um Zusammenhalt und Weiterbestehen der menschlichen Stämme. Aber die Erzählweise betont eher den Abenteueraspekt und die hoffnungsvolle Perspektive.

Sie lassen ja bewusst offen, was im Jahr 2029 zum apokalyptischen Blackout geführt hat. Von politischen Motiven rund um den Zerfall der EU bis zu einer gigantischen Naturkatastrophe lässt sich da sehr viel hineininterpretieren. Ist das nicht ein bisschen zu viel des Schlechten?

Wir alle kennen diese Katastrophenfilme, die einfach immer nur von einem mysteriösen, weltverändernden Vorereignis sprechen und es dem Zuschauer überlassen, sich dazu seinen Teil zu denken. So ist "Tribes of Europa" nicht angelegt. In meiner Konzeption steckt ein ganz klarer Auslöser dahinter, ein ausgeklügelter Masterplan, der über mehrere Staffeln Schritt für Schritt entschlüsselt werden soll, wenn es hoffentlich weitergeht. All die Punkte, die in der ersten Staffel genannt werden, sind Puzzlestücke für den Zuschauer, um langsam zu kombinieren, was hinter dem Mysterium des 'Schwarzen Dezembers' steckt.

Wie viele Staffeln würden Sie denn gern machen?

Also, ich sehe auf jeden Fall einen großen Handlungsstrang mit diversen Tribes und Verästelungen, der acht bis neun Staffeln umspannen kann.

Und wie viele davon hat Netflix Ihnen schon garantiert?

Ich schreibe zwar schon an der zweiten Staffel, aber wir müssen natürlich erstmal schauen, wie die erste überhaupt ankommt. Das ist ein sehr großes Projekt mit einem hohen Budget und es basiert auf keiner Vorlage. Insofern gebührt Netflix ohnehin schon großer Dank für den Mut. Genau wie übrigens der Produktionsfirma Wiedemann & Berg, mit der es wirklich eine ausgezeichnete Zusammenarbeit war, dieses Mammutprojekt in so kurzer Zeit zu realisieren. Dem gebührt riesiger Respekt.

Tribes of Europa © Netflix/Gordon Timpen "Es geht richtig um die Wurst": Henriette Confurius, David Ali Rashed und Emilio Sakraya müssen kämpfen

Bei einer US-Produktion hätten Sie für Ihre Fantasiewelten vermutlich noch viel mehr ausgeben dürfen.

Natürlich, für einen Filmemacher ist es immer zu wenig, egal wie hoch das Budget ist. Wenn man so tief ins 'Worldbuilding' einsteigt wie wir, geht das nur in enger Absprache mit den Produzenten. Und die sagen einem manchmal, dass bestimmte Dinge leider nicht gehen. Dann muss man umdenken, und schon kann sich die ganze Erzählwelt verschieben, nur weil man einen Stein umdreht. Das erfordert sehr viel Disziplin. Ich finde aber, dass sich die Zugeständnisse, die wir machen mussten, alles in allem nicht auf die Qualität der Serie ausgewirkt haben.

Sie hatten zuvor noch keine Serienerfahrung – und dann gleich Showrunner, Headautor und Regisseur in einer Person. Haben Sie sich da nicht zu viel zugemutet?

Ich würde sogar sagen: Weil ich mir so viel zugemutet habe in dieser Personalunion, hat es überhaupt nur funktioniert. Anders wäre es womöglich gescheitert. Von meinen Filmen bin ich es gewohnt, dass ich fast immer sowohl schreibe als auch inszeniere, also wirklich die kreative Gesamtfederführung übernehme. Nun sind Serien natürlich ein ganz anderes Kaliber und mir fehlte der Erfahrungshintergrund als Showrunner. Hätte ich mir aber für die Regie einen starken Lead Director gesucht, anstatt drei Folgen selbst zu drehen, wäre ich möglicherweise Gefahr gelaufen, die Kontrolle über die Homogenität der Serie zu verlieren, da in der Show nahezu jedes Detail von Kostüm über Maske bis Setdesign komplett neu kreiert werden musste. Und das für jeden Tribe unterschiedlich. Das kann einem schnell entgleiten. Das war natürlich irre viel Arbeit über die letzten zweieinhalb Jahre. In der zweiten Staffel werde ich definitiv nicht mehr so viel machen. Das ist aber auch gar nicht mehr nötig, weil der Stil und die Tonalität der Serie jetzt klar gesetzt sind.

Einmal Showrunner, immer Showrunner? Oder sind Sie auch künftig noch für "Tatorte" und Kinofilme zu haben?

Ich hoffe natürlich, dass ich die nächsten acht Jahre mit "Tribes of Europa" verbringen darf. Ansonsten ist der "Tatort" immer noch eines der interessantesten deutschen Formate, weil man innerhalb dieses etablierten Gefäßes einfach wahnsinnig viel ausprobieren kann. Immerhin durfte ich mich dort schon mit einem Vampir-Horrorfilm und einem Skandalfilm über Hardcore-Pornos austoben.

Herr Koch, herzlichen Dank für das Gespräch.

"Tribes of Europa", ab Freitag bei Netflix

Mehr zum Thema