Herr Röller, die Olympischen Spiele in Peking stehen bevor, während Omikron um die Welt geht. Wird die Arbeit für Journalistinnen und Journalisten in China dadurch noch zusätzlich erschwert?

Die Berichterstattung ist schon ohne Corona massiv eingeschränkt, aber das Virus hat dem Regime eine Handhabe gegeben, noch repressiver zu sein. Durch die Pandemie werden sicher nicht so viele Journalistinnen und Journalisten ins Land kommen wie ursprünglich geplant – auch, weil die Angst, sich zu infizieren, sehr groß ist ist und nicht einhundertprozentig klar ist, was im Falle einer Infektion eigentlich passiert.

Welches Bild von China soll mit diesen Spielen in die Welt getragen werden?

Es gibt keine Umfragen, aber ich glaube schon, dass die Mehrheit der Chinesinnen und Chinesen sehr stolz ist, dass ihr Land die Spiele ausrichtet – vor allem, weil Peking die erste Stadt ist, die Winter- und Sommerspiele veranstaltet hat. Das hat es noch nie gegeben. Solche Dimensionen, Historisches zu schaffen, ist eines der Ziele von Staatspräsident Xi Jinping. Er wird die Besonderheit und die große Leistung der chinesischen Gesellschaft herausstellen und perfekte Spiele organisieren, die ein brillant funktionierendes System präsentieren. Stolz, Wirtschaftskraft, Innovation – all das soll gezeigt werden. Nur Corona macht die Staatsführung nervös.

Inwiefern?

Die für chinesische Verhältnisse vielen Ausbrüche und die Unberechenbarkeit von Omikron führen zu einer neuen Situation, denn eigentlich herrscht hier eine Null-Covid-Strategie und das Ziel ist es, der Welt zu demonstrieren, wie gut China durch die Krise kommt. Das führt dazu, dass sich alle, die zu den Spielen kommen, massiven Kontrollen unterziehen müssen. Das sehe ich mit einer gewissen Süffisanz, weil plötzlich alle Menschen, die aus dem Westen kommen, darüber staunen, ständig getestet und überwacht zu werden. Durch all diese Corona-Maßnahmen wird der chinesische Repressionsapparat plötzlich für jeden sichtbar und erfahrbar. Das ist, wenn Sie so wollen, der Realitätscheck mit anderen Mittel. 

Was haben Sie sich für die ZDF-Berichterstattung vorgenommen? 

Ich bin mit meinem Team außerhalb der Olympia-Bubble, werde von den Spielen selbst also gar nicht so viel mitbekommen. Unsere Aufgabe als Studio ist es, das wahre Gesicht dieser Gesellschaft zu zeigen und deutlich zu machen, wo die Welt hinfährt und welches System hier herrscht. Es ist gar nicht so einfach, die Stimmungsbremse zu sein, weil ich nachvollziehen kann, dass ein Teil des Publikums zwischen Skispringen und Biathlon nicht unbedingt etwas über Menschenrechte hören möchte. Aber die Arbeitslager in Xinjiang sind eine Realität, ebenso das Schaulaufen der Weltmächte im südchinesischen Meer. Das ist eine bedrohliche Situation, vor deren Hintergrund diese freudigen Spiele stattfinden. 

Sie sind seit 2019 als Korrespondent in China, waren zuvor in Washington. Welche Unterschiede nehmen Sie in Ihrer Arbeit wahr?

In Amerika hatte ich nie das Gefühl, etwas exklusiv zu haben. Dafür sind die internationalen Medien, verglichen mit der "New York Times", CNN oder NBC, schlicht zu weit weg vom Weißen Haus. Hier in China habe ich dagegen immer wieder das Gefühl, exklusive Geschichten machen zu können. Wenn ich nach Xinjiang fahre, um über die Umerziehungslager zu berichten, gibt’s vielleicht eine Story, zumindest für den deutschen Medienmarkt. Wenn ich nicht hinfahre, gibt’s sie definitiv nicht, weil der chinesische Staat sie ganz sicher nicht machen wird. Das ist eine absurde Reporter-Droge, aber ich merke, dass das vom Publikum honoriert wird. 

Spüren Sie in Ihrer täglichen Arbeit den Druck des chinesischen Staates?

Auf den Druck, den es auf unser Büro gibt, kann ich nur bedingt eingehen. Ich selbst spüre ihn, wenn ich zu Gesprächen eingeladen werde, bei denen thematisiert wird, was aus chinesischer Sicht in meiner Berichterstattung falsch dargestellt worden ist. Man argumentiert dann, wieso man anderer Meinung ist. Wir müssen uns rechtfertigen, die Polizei verfolgt uns beim Drehen, wollen, dass wir unser Material löschen, was wir selten machen. Das ist zwar nervig, aber körperlich bedroht fühle ich mich nicht. Der wahre Druck lastet auf den chinesischen Kolleginnen und Kollegen. 

Sie haben also keine Angst?

Nein, Angst verspüre ich nicht. Das ist eine Profi-Diktatur, und der Skandal, einen deutschen Journalisten wegzusperren, wäre viel schädlicher für die internationalen Beziehungen als das, was ich im deutschen Fernsehen erzähle. Das bekommen nämlich 99,9 Prozent der Chinesinnen und Chinesen ohnehin nicht mit.

 

"Wenn ich meinen Job gut mache, dann bringe ich Menschen in Schwierigkeiten."

 

Wieso hat es Sie überhaupt nach China gezogen?

Ich hätte mir nach neun Jahren in Amerika auch andere Aufgaben im ZDF vorstellen können, aber mich hat der Gedanke fasziniert, nach den USA auch den anderen Blickwinkel auf die Welt zu bekommen – hier die eine Weltmacht, die im Absinken ist, dort die andere Weltmacht, die gerade entsteht. Die Erfahrung mit Weltpolitik und diese zu lesen, hat mir geholfen, auch wenn ich leider kein Chinesisch spreche.

Ist das nicht eine immense Hürde?

Ich bin ein altes Reporter-Schlachtross, das sich hoffentlich überall zurechtfindet, aber klar: Sprachkenntnisse sind wichtig. Da bleibt immer eine gewisse Mauer, auch wenn unsere chinesischen Kolleginnen und Kollegen das Gesagte übersetzen. Andererseits ist das Nicht-Expertentum oft auch ein Vorteil, weil man vielleicht etwas stärker die Perspektive der Zuschauerinnen und Zuschauer einnimmt. Gleichzeitig stelle ich mir selbstkritisch die Frage: Wie lange trägt das? Kannst du nach drei, vier Jahren immer noch der staunende Deutsche sein oder muss der nächste Schritt folgen?

Wie lebt es sich als deutscher Journalist in China?

Die Erfahrung als Journalist, aber auch als Mensch ist: Sie machen sich zum Täter und Opfer gleichzeitig, denn wenn ich meinen Job gut mache, dann bringe ich Menschen in Schwierigkeiten. Diese Erfahrung zu machen, ist faszinierend, aber emotional sehr belastend.

Was haben Sie in Ihrer Zeit in China gelernt?

Es ist etwas anderes, in einer Diktatur zu leben. Darauf kannst du nicht vorbereitet werden. Es gibt den schönen Satz, dass man eine chinesische Zeitung, also Propaganda, rückwärts lesen muss. Das muss man verstehen und lernen. Das zweite, das ich verstehen und lernen musste: In Amerika ist alles offener Vollzug, da wird nichts unausgesprochen gelassen. Der Wahnsinn geht direkt in die Kamera – manchmal fast zu viel. Hier in China ist das komplett anders, weil im öffentlichen Raum keine Politik stattfindet. Politik findet indirekt statt. 

Wie nehmen Sie es von China aus wahr, wenn in Deutschland, wie in diesen Tagen immer wieder zu erleben, Menschen auf die Straße gehen und von Diktatur sprechen?

Man muss mit Begriffen wie Diktatur, Freiheit und Demokratie sensibel umgehen. Das habe ich in China gelernt. Ich will überhaupt nicht urteilen, wie bedrückend, einengend und freiheitsbeschränkend die Corona-Maßnahmen in Deutschland empfunden werden. Aber das ist keine Diktatur. Alleine wenn die Menschen im Fernsehen sind oder demonstrieren können, ist das doch ein Widerspruch. In China sagt dagegen keiner etwas, das Xi nicht passt.

Wenige Monate, nachdem Sie die Studioleitung in Peking übernommen haben, nahm die Pandemie ihren Lauf. Wie waren Ihre erste Corona-Erfahrungen?

Wir sind sehr früh nach Wuhan gefahren, nicht wissend, was da los ist und sahen am späten Abend zum ersten Mal riesige Tanklaster, die komplette Straßenzüge desinfizierten. Beim Blick in die Notarztwagen konnte man plötzlich Menschen in Vollmontur erkennen. Als wir später, kurz bevor die Stadt abgeriegelt wurde, im Flugzeug saßen und das gesamte Bordpersonal Maske und Handschuhe trug, war meine Senior Producerin davon überzeugt, dass alles viel schlimmer ist als gedacht – und dass sie die Stadt dicht machen werden. Das hätte ich nicht für möglich gehalten, wurde aber schnell eines Besseren belehrt. 

Durch Corona ist es schwer, von Deutschland nach China zu kommen. Das stelle ich mir mitunter einsam vor, wenn die Familie nicht da ist. 

Ich habe meine Familie zuletzt im vorigen Sommer besucht. Sie so lange nicht sehen zu können, ist hart. Dazu kommt die Einsamkeit, kulturell verloren zu sein, keine wirklichen Kontakte zu haben außerhalb der internationalen Bubble. Da ist man manchmal platt. Und ich bin hin- und hergerissen, wie lange man so etwas durchhält. Gleichzeitig mag ich die Menschen hier, ein sehr herzliches, fröhliches, oft sogar anarchistisches Volk. Für mich ist das definitiv der spannendste Job.

Herr Röller, vielen Dank für das Gespräch.