Seit unserem letzten Interview 2019 erleben wir steigende Produktionskosten und ökonomische Zwänge von auftraggebenden Sendern und Plattformen. Die Kreativszene sorgt sich um die Auftragslage. Wie geht Amazon Studios durch diese Zeit?

Wir leben in einer Zeit mit viel Ungewissheit in der Welt mit Inflation und Kriegen. Wir erleben als Reaktion darauf an vielen Stellen eine besondere Vorsicht, ein konservativeres Wirtschaften. Wohlüberlegtes Handeln ist mehr denn je gefragt und das gilt auch für Amazon Studios. Wir werden aber ganz sicher nicht unsere Ambitionen oder Zielsetzungen reduzieren, oder um es ganz klar zu sagen: Auch nicht das Gesamt-Volumen unseres Outputs. Aber hey, vielleicht lässt sich ein Film ohne Qualitätsverlust auch an ein paar Locations weniger drehen? Und lässt sich eine Geschichte vielleicht genauso gut in acht statt zwölf Folgen produzieren? Dann lasst uns das tun und in den meisten Fällen trifft das auf großes Verständnis bei unseren Produktionspartnern. 

Bei den LA Screenings hat Amazon Studios gerade erstmals bislang exklusive Prime Video-Programme zur Lizenzierung angeboten, darunter auch große Titel wie u.a. „Marvelous Mrs. Maisel“...

Wohlüberlegt zu handeln gilt nicht nur fürs Auge auf die Produktionskosten sondern auch bei der Frage, ob man Herausforderungen nicht zusammen mit Partnern stemmt, die z.B. in einzelnen Territorien neue Programme zusammen mit uns auswerten oder nach der Premiere bei Prime Video ein weiteres Verwertungsfenster übernehmen, entweder von vornherein, um zusammen das Budget neuer Produktionen zu stemmen oder durch Verkäufe des fertigen Produkts. Teil des in Los Angeles angebotenen Portfolios waren übrigens auch zehn internationale Amazon Studios-Produktionen. Wenn es die Chance gibt, diese Programme ins Fernsehen oder auf andere Services zu bringen, dann hilft uns das nur noch mehr Budget für neue Projekte zu haben.

Dass wir momentan bei vielen Marktteilnehmern, die bislang auf Highend-Fiction fokussiert waren, inzwischen mehr kostengünstigere Reality- oder Comedy-Formate sehen, hat auch etwas mit den Umständen zu tun?

Oh, also glauben Sie mir: „Takeshi’s Castle“ war alles andere als günstig und auch „LOL“ arbeitet mit großen Namen und sieht ganz sicher nicht billig aus. Beide Formate sind im Gegenteil sogar ein guter Beweis dafür, dass es bei unserem Investment in Unscripted Entertainment nicht darum geht, Geld zu sparen. Wir machen keine halben Sachen. Es mag für andere Plattformen die Möglichkeit sein, dem kostspieligeren Wettbewerb von Highend-Serien aus dem Weg zu gehen, aber wir realisieren unverändert Serien wie „Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht“ oder „Citadel“ oder in Deutschland gerade „Luden“ und jetzt „Der Greif“. Wir produzieren in unseren Märkten in der Regel zehn bis zwölf Projekte im Jahr und wenn man dann nur eine begrenzte Zahl von Patronen m Magazin hat, dann sollte man keinen Schuss vergeuden… das war jetzt eine sehr amerikanische Analogie, da bitte ich um Entschuldigung. Aber die Aussage dürfte klar sein.

Was hat Sie denn am „Greif“ überzeugt?

Vor ziemlich genau vier Jahren war ich in München und zusammen mit Philip Pratt hatten wir einen Termin mit Quirin Berg und einigen anderen von Wiedemann & Berg - eine Produktionsfirma mit einer wahrlich starken Historie von Projekten, wenn ich an „Das Leben der Anderen“ oder auch „Dark“ denke. Ich habe dann die eine Frage gestellt, die ich gerne im Gespräch einwerfe: Was ist das eine Projekt, was ihr unbedingt machen wollen würdet, aber was bislang immer unmöglich schien? Und Quirin Berg war vorbereitet. Da kam keine lange Liste in der Hoffnung, dass uns irgendetwas davon schon interessieren würde. Er hatte genau ein Projekt - und pitchte „Der Greif“ zusammen mit den Showrunnern, die schon Jahrzehnte davon geträumt haben, das Buch zu verfilmen. Das Level an Leidenschaft und Risiko, alles auf eine Karte zu setzen, gefällt mir. Und die Genres Fantasy und SciFi laufen gut für uns, aber eine neue Staffel „Die Ringe der Macht“ kommt nicht jeden zweiten Monat daher.

Jetzt besteht ihr Job bei Amazon Studios ziemlich genau darin zu beweisen, dass es außerhalb der USA hervorragende Talente und Storys gibt. Da macht man sich bei den streikenden US-Autorinnen und Autoren nicht gerade beliebt oder?

Wie Sie schon sagen: Das war schon immer meine Aufgabe bei Amazon Studios. Es gab immer schon enormes Talent in aller Welt und es ist mir ein Privileg zu denen zu gehören, die das fördern und international zugänglich machen können.

Beim letzten großen Streik der Autorinnen und Autoren vor mehr als 15 Jahren war das Seriengeschäft noch weitgehend eine Einbahnstraße: Die USA war Export-Weltmeister. Inzwischen werden Serien aus allen denkbaren Ländern zu großen Erfolgen…

Es ist aufregender geworden, das konnte man auch im März bei der Series Mania in Lille merken. Ich habe dort auch die Gelegenheit genutzt und mehrere internationale Amazon Studios Produktionen vorzustellen, auf die ich mich besonders freue und „Der Greif“ war eine davon.

 

"Zuhause in Los Angeles amüsiert es immer noch einige Kolleginnen und Kollegen, dass die Deutschen die lustigsten sind"

Farrell über den "LOL"-Erfolg

 

Seit mehr als fünf Jahren verantworten Sie das internationale Portfolio von Amazon Studios. Welche Länder bzw. deren kreativer Output hat sie bei der Suche nach neuen Programmen am meisten überrascht?

Interessante Frage (grübelt) Zunächst einmal Indien, wo ich im Vorfeld zwar schon zahlreiche Bollywood-Filme und andere Produktionen aus dem Süden Indiens auf Tamul und Telugu gesehen hatte. Aber bis vor wenigen Jahren gab es wenig Ambitionen Highend-Fiction auf einem international zugänglichen Level zu produzieren. Seit 2015 investieren wir dort und ich war mir anfangs nicht sicher, ob das mehrfache Umdenken funktionieren wird, denn eine TV-Serie ist auch nochmal etwas anderes als ein Kinofilm. Aber es klappte, weil es eine gute Zusammenarbeit zwischen vorrangig lokalen Kreativen und manchmal nötiger internationaler Expertise war. Mit Blick auf das inzwischen schon große LineUp unserer indischen Produktionen, hat mich das sehr beeindruckt.

Und darüber hinaus?

In Deutschland hat mich der Erfolg von „LOL“ umgehauen und ich bin mir sicher, dass ich mindestens 50 Prozent der Jokes verpasse, aber Comedy aus Deutschland kann so gut sein. So gut übrigens, dass es von all den „LOL“-Versionen die deutsche war, die vergangenes Jahr für den International Emmy Awards nominiert wurde. Zuhause in Los Angeles amüsiert es immer noch einige Kolleginnen und Kollegen, dass die Deutschen die lustigsten sind. 

Also kann Amazon Studios mit Blick auf den Beitrag der internationalen Märkte gelassener auf den Streik der Autorinnen und Autoren in den USA schauen?

Ich wünsche den Autorinnen und Autoren bzw. Studios natürlich eine schnelle Lösung. Unsere Pipeline ist bis auf Weiteres gut gefüllt: Aus Spanien kommt diese Woche „Culpa Mia“, eine sehr attraktive sexy Serie - man könnte sagen „Fast and the Furious“ meets „Elite“. Aus Frankreich kommt die die Actionkomödie „Medellin“ über eine Gruppe von Freunden, die nach Kolumbien reisen, um einen Freund zu retten und dabei gefährliches Terrain betreten. Und allein aus Deutschland kommen so viele herausragende Produktionen noch in diesem Jahr: Die Thriller-Serie „Die Therapie“ von Sebastian Fitzek, der nach Romanvorlage gedrehte Fantasy-Film „Silber“ und „Save Me“ mit Harriet Herbig-Matten und Damian Hardung in den Hauptrollen. Und schon in wenigen Tagen kommt „The World’s Most Dangerous Show“ mit Joko Winterscheidt, was nochmal etwas ganz Neues für unsere Kundinnen und Kunden von Prime Video ist. Mit Teddy Teclebrhan arbeiten wir außerdem schon an den nächsten Ideen.

Stichwort Comedy: Immer wieder heißt es, das sei ein stark nachgefragtes Genre bei diversen Streamimgdiensten, aber der große Comedyserien- oder Sitcom-Boom bei den Streamern ist nicht ausgebrochen. Wie kommt’s?

Eine gute Frage. Natürlich haben einige der größten Broadcast-Sitcoms wie „Two and a half men“, „The Office“, „Big Bang Theory“, „Modern Family“, „Seinfeld“ eben extrem viele Episoden, eine große Fanbase und entsprechend viel Repeat-Viewing. Ich spreche da immer wieder mit Produzenten drüber und vielleicht ist das tatsächlich die härteste Nuss, die ich gerne knacken würde. Und wenn das hier Kolleginnen und Kollegen der Sender lesen: Hier könnte ich mir auch gut eine Zusammenarbeit vorstellen, weil es das Durchhaltevermögen braucht, neue Comedys und Sitcoms mit ihren Charakteren zu etablieren. „Modern Family“ war die Ausnahme, weil es vom Start weg ein großer Erfolg war. Sonst aber braucht es erstmal viel Sichtbarkeit und langen Atem. Vielleicht ist das zusammen mit Partnern einfacher. Bei Comedy geht es weniger um Exklusivität als das Etablieren von Charakteren.

Das galt früher auch mal für Serien allgemein, inzwischen aber dominiert eigentlich überall die Miniserie. So etwas wie „Marvelous Mrs. Maisel“ ist eher die Ausnahme…

„Bosch“, „The Boys“… es gibt ein paar mehr. Bei „LOL“ kommt nächstes Jahr auch schon die fünfte Staffel und ich bin mir ziemlich sicher, da werden wir zweistellig.

Aber da geht es nicht um die Wiederkehr von geliebten Charakteren und Geschichten. Ich meinte eher die fiktionalen Serien…

Amazon ist ein sehr kundenorientiertes Unternehmen und wir machen das, was unsere Kundinnen und Kunden wollen. Wenn wir also sehen, dass die aufregende neue Idee mehr Aufmerksamkeit und Interesse erhält als Staffel 2 oder 3, dann werden wir unser Budget entsprechend in neue Ideen investieren. Aber wenn man sich dann die Nutzung von etwas wie „The Marvelous Mrs. Maisel“ in der ersten Staffel anschaut, fiel es nicht schwer sich dafür zu entscheiden, hier dran zu bleiben. Bei anderen Serien wiederum ist es anders und dann investiert man lieber in etwas Neues. Daher beantwortet sich die Frage die sie gestellt haben, mit dem Geschmack des Publikums.

Gibt es Genres in denen Sie sich mehr Input wünschen würden? Nach denen Sie gezielt suchen?

Das ist eine gefährliche Frage, weil die Antwort mir sehr viele eMails und Skripte bescheren könnte (lacht). Also im Bereich Unscripted suchen wir natürlich nach Formaten, die zum Erfolg von „LOL“ passen würden, ähnlich gut mit mehreren Staffeln wiederholbar sind und idealerweise die Chance geben, Talente zu binden. Aber bitte nicht etwas, was nur leicht anders ist als das, was es schon gibt. Wir brauchen neue Ideen.

 

"Wir müssen unser Budget einsetzen um mehr als nur eine kleine Nische zu bedienen."


Und andere als noch vor fünf Jahren oder? Einst suchten Streamingdienste die unbesetzten Nischen, aber inzwischen wirkt das Programmangebot weniger alternativ zum linearen Fernsehen als viel mehr im direkten Wettbewerb dazu?

Das geht Hand in Hand mit der Evolution von Prime Video international und führt genau zu dem, was Sie beschrieben haben: Wir müssen unser Budget einsetzen um mehr als nur eine kleine Nische zu bedienen, denn wir sind sehr fokussiert auf unsere Kundinnen und Kunden und wollen möglichst viele erreichen mit dem, was wir uns ausdenken. Aber um Ihre vorherige Frage noch zu ergänzen: Comedy ist die Nuss, die ich knacken möchte und Action-Geschichten, egal ob Film oder Serie. Je nachdem, ob es um eine Story-Idee oder zuerst um Charaktere geht. Mich treibt immer wieder die Frage um: Wer wird der nächste große Action-Star? Was wird das nächste Action-Franchise?

Dann noch eine letzte Frage: Welche ihrer Serien haben sie am meisten überrascht und zwar mit Blick auf die Akzeptanz beim Publikum - sowohl positiv wie auch negativ?

Mich haben die Performances einiger eher lokaler Doku-Projekte sehr überrascht, weil man zu wissen glaubt, dass man es im Fall von Personality-Dokus für die Fans macht und dann merkt, dass weitaus mehr Menschen Interesse daran finden. Und welcher Serie würde ich noch mehr Zuschauerinnen und Zuschauer wünschen? „The Lake“ aus Kanada. Da kommt bald die zweite Staffel. Also wäre jetzt die Gelegenheit, die erste Staffel zu entdecken. Lohnt sich.

James, herzlichen Dank für das Gespräch.