Frau Burkhardt, was haben Sie zuletzt in der ARD-Mediathek gesehen? [Hinweis: Das Interview wurde Mitte September geführt]

Sophie Burkhardt: Ich schaue mir immer die Inhalte an, die wir ganz oben in den Empfehlungen platziert haben. Zuletzt waren das die Dokumentationen "Ernstfall - Regieren am Limit" und "Deutsche Schuld – Namibia und der Völkermord" mit Aminata Belli.

Ich habe zuletzt eine Folge von "Gefragt - gejagt" in der Mediathek gesehen. Danach wurden mir zwei Empfehlungen angezeigt: "Unser Lied für Rotterdam - Pressekonferenz mit Jendrik" und "Baerbock, Laschet, Scholz: Wer hat die besten Chancen". Wie kann das sein?

(lacht) Die Empfehlungslogiken hängen sehr stark mit Metadaten zusammen. Die Pflege von solchen Daten ist in unserer dezentralen Struktur nicht ganz einfach, weil wir an vielen Stellen auf Zulieferungen angewiesen sind. Wenn schräge Empfehlungen ausgespielt werden, liegt es häufig daran, dass die dahinterstehenden Metadaten nicht passen. Das ist ein Thema, das sich in letzter Zeit schon verbessert hat und an dem wir aber weiter arbeiten müssen.

Sie sind jetzt seit rund eineinhalb Jahren als Channel Managerin der ARD Mediathek und als Vize-Programmchefin der ARD im Amt. Sind Sie noch so motiviert wie am ersten Tag oder zehren die Realitäten innerhalb der ARD schon an Ihnen? Da gibt es ja immer auch verschiedene Begehrlichkeiten

Begehrlichkeiten ist in diesem Zusammenhang nicht das richtige Wort. Sagen wir, es ist mehr ein Prozess, der mit einer Besonderheit der ARD zusammenhängt: Wir müssen unser System, das an unterschiedlichen Stellen in Deutschland regional verankert ist, in ein digitales Konstrukt zusammenführen und das ist eine spannende Aufgabe. Die ARD steckt in einem Reformprozess und allein im letzten Jahr hat sich da schon extrem viel getan. Am Anfang gibt es ja immer so eine Phase, in der man sich langsam nach vorne tastet. Jetzt habe ich schon viele eigene Erfahrungen gemacht und habe vor allem viele Leute kennengelernt, mit denen ich gern zusammenarbeite, das motiviert mich sehr.

Was hat sich für Sie in den eineinhalb Jahren geändert? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

In der gesamten ARD sind wir mit der Frage beschäftigt, welche Arten von Programmen wir in der Mediathek anbieten wollen und was wir dafür brauchen. Was suchen die Menschen eigentlich bei uns? Da haben wir zuletzt viele Dinge ausprobiert. Wir haben zum Beispiel einen Fokus auf Dokus und Doku-Serien gelegt. Die Mediathek war früher sehr fiktional geprägt, wir haben aber mehr zu bieten. Wir haben dabei gemerkt, dass Sport-Dokus, gerade auch Investigatives im Sport, aber auch Wissens-Dokus unglaublich gut ankommen. Eine spannende Erfahrung war auch, dass wir mit "Asbest" erstmals eine fiktionale Serie angeboten haben, die aus Reichweitensicht auf ein Level gekommen ist, das sonst nur Programme erreichen, die im linearen TV ausgestrahlt werden. Gleichzeitig hatte "Asbest" ein ganz anderes Publikum. Es geht also auch über die Mediathek, hohe Abrufzahlen zu generieren und eine eigene Distribution aufzubauen. Das geschafft zu haben, hilft bei der weiteren Entwicklung und Gestaltung von Programmen.

Was sind also die Lehren aus diesen Erfahrungen? Welches Programm brauchen Sie, welches nicht?

Wir brauchen Bindung. Also alles, was Menschen dazu bringt, regelmäßig zu uns zu kommen. Fiktionale Inhalte benötigen zusätzlich eine gewisse Auffälligkeit, um sichtbar zu sein. Da setzen wir also eher auf Hochwertigeres als auf Masse. Die ARD kann viele Inhalte anbieten. Aber die Frage ist, welche Inhalte sind so spannend, dass die Userinnen und User die ARD Mediathek dafür aufsuchen. Nach diesen Stoffen suchen wir. Sie umzusetzen ist aufwendig und deshalb ist es wichtig, dass Redaktionen und Landesrundfunkanstalten ihre Kräfte bündeln. Durch solche Kooperationen gelingen uns immer wieder Highlight-Programme.

Wir brauchen Bindung. Also alles, was Menschen dazu bringt, regelmäßig zu uns zu kommen. 


Wo lief es denn nicht so gut in dem vielen Experimentieren?

Etwas auszuprobieren finde ich immer gut. Es gibt aber Felder, die besonders komplex sind. Was wir aktuell besprechen, ist das Thema ‚Talk‘ in der Mediathek. Also ein Bereich, der im TV-Programm eine sehr wichtige Rolle spielt. Wie kann eine solche Talkshow im Digitalen aussehen? Darauf wollen wir eine Antwort finden. Wir sammeln da schon jetzt Erfahrungen mit Formaten, die mit dem Fokus Mediathek entwickelt wurden, zum Beispiel mit "Deutschland3000" mit Eva Schulz oder "deep und deutlich". Künftig wollen wir auch die Möglichkeiten, ein solches digitales Format mit einem TV-Sendeplatz zu verbinden, noch weiter ausloten. Deshalb soll ja zum Beispiel auch Louis Klamroth künftig für der Mediathek eine wichtige Rolle spielen.

Im Interview vor eineinhalb Jahren haben Sie den damaligen Stand der Mediathek mit einem Spruch verglichen: Gärtnern statt Schreinern. "Die Grundlage für den Garten ist schon angelegt – jetzt kann ich weiter in die Gartenpflege einsteigen", sagten Sie damals. Wo stehen Sie im Garten-Ausbau aktuell?

Wir haben verschiedene Dinge ausprobiert und zum Beispiel in der Fiktion einige Projekte ganz speziell für die Mediathek "ausgesät": Lizenzen, die wir eingekauft haben, aber auch eigene Produktionen. Einige Projekte sind schön erblüht. "Asbest" oder auch "Almania" sind Beispiele, die junge Zielgruppen erreichen haben und an solchen Erfolgen wollen wir weiter arbeiten. Auch beim "Y-Kollektiv" haben wir es geschafft, ein großartiges Format, das bei funk für eine jüngere Zielgruppe entstanden ist, es in der Mediathek weiterzuentwickeln. Hier können wir eine regelmäßige Nutzung erzielen und das in einem Themenspektrum, das uns in der Mediathek sehr gut tut. Bei den Dokus haben wir uns lange auf Doku-Serien konzentriert. Aber wir haben gemerkt: Es muss nicht um jeden Preis eine Serie sein, Es kommt auf das Thema an. Und wenn das eher in einem Film erzählt werden kann, ist das auch gut.

In der Fiktion war "Die nettesten Menschen der Welt" etwas ganz Neues. Es war die erste Anthologie-Serie in der Mediathek und gleichzeitig auch die erste Mystery-Serie. Ihr Fazit?

Wir haben über den Sommer hinweg verschiedene Serien in der Mediathek ausprobiert. Wenn wir uns die Zahlen anschauen, war "37 Sekunden" dabei an erfolgreichsten, dahinter dann "Arcadia" und "Die nettesten Menschen der Welt". Das Genre Mystery ist für uns aber auch weiterhin spannend und hier wollen wir 2024 Neues testen. Dieses Genre steht bislang nicht für die ARD und da müssen wir Erfahrungen sammeln, wie wir uns hier aufstellen.

Bei den Dokus haben wir uns lange auf Doku-Serien konzentriert. Aber wir haben gemerkt: Es muss nicht um jeden Preis eine Serie sein


Für welche Genres, mit Ausnahme der Mystery, steht die ARD-Mediathek bislang denn noch nicht so sehr?

Neben dem ganzen Bereich ‚Horror‘ und ‚Mystery‘, den wir lange nicht hatten, gibt es auch andere Stoffe, für die die ARD nur in einem bestimmten Publikumssegment bekannt ist. Wir erreichen zum Beispiel im Fernsehen mit dem "Endlich Freitag"-Label oder am Dienstag mit "In aller Freundschaft" ein treues Publikum. Jetzt überlegen wir: Was entspricht diesen Farben in der Mediathek? Ich benutze da gern den Begriff "moderner Mainstream". Wie sieht der für uns in der Fiktion aus?

Die Mediathek wird immer als das Allheilmittel in der Verjüngung angepriesen. Dabei schauen doch heute auch schon 40- oder 50-Jährige wie selbstverständlich on demand.

Darüber haben wir im letzten Jahr viel diskutiert. Ich glaube, dass ganz viele mit ‚Verjüngung‘ Menschen zwischen 20 und 30 Jahren meinen. Wenn man ehrlich ist, ist das ja gar nicht unser Thema. Wenn wir von jüngeren Zielgruppen reden, denken wir an Menschen bis 50 Jahren. Schaut man auf diese Zielgruppe und ihre Mediennutzung, ist dort die Streaming-Nutzung hoch und liegt auf einem Niveau mit dem des linearen Fernsehens. Deshalb sollten wir nicht nur an total spitze Projekte denken, mit denen wir 20-Jährige in die Mediathek bringen. Das machen wir auch immer wieder. Aber wichtig ist eben auch die Gruppe der 30- bis 50-Jährigen. Gewisse Altersgruppen erreichen wir nicht nur deshalb nicht gut, weil sie grundsätzlich weniger Fernsehen schauen, sondern auch, weil wir noch nicht das passende Programm für sie haben.

Welche neuen Produktionen starten in den kommenden Wochen und Monaten?

Mit "Being Michael Schumacher" wird es noch in diesem Jahr eine neue Sport-Portrait-Serie geben. Außerdem planen wir Dokus, die eher im popkulturellen Bereich angesiedelt sind. Das eine ist "Echt - Unsere Jugend", in der es um die Band Echt und ihre Geschichte geht. Mit "HipHop - Made in Germany" gibt es außerdem ein Projekt, das sich mit der Geschichte des HipHops auseinandersetzt, nach einem ähnlichen Prinzip wie im letzten Jahr "Techno House Deutschland". Rund um die Jahreswende haben wir mit dem Agenten-Thriller "Davos" auch ein fiktionales Highlight geplant. Im nächsten Jahr gibt es mit "Oderbruch" eine spannende Kombination: Mystery mit regionaler Verankerung

Welche Formate fernab der Fiction und der Dokus stehen noch an? Und wer ist eigentlich die Zielgruppe der Kettensägen-Show mit Ralf Möller, die Mitte September gestartet ist?

(lacht) Wenn Sie das so fragen, wird Sie meine Antwort vielleicht wundern, aber Factual Entertainment ist ein Genre, das in der Mediathek sehr gut ankommt. Das gilt auch für die "Motorsägen Masters", da bleiben vor allem junge Männer dran, auch weil die Dramaturgie funktioniert. In diesem Jahr wird außerdem im Factual-Bereich noch die zweite Staffel von "Down the Road" starten. Mit "Feuer und Flamme" vom WDR haben wir ein weiteres richtig starkes Format aus diesem Bereich. Factual ist eine Farbe, die ich sehr interessant finde, weil es erlaubt, Protagonisten in ihrer Vielfalt und auch regionalen Unterschiedlichkeit nochmal anders nahezukommen.

Ein Aufruf an Produzentinnen und Produzenten?

Ja. Wir suchen nach neuen Ideen. Da schlummert im gesamten Bereich Regionalität noch viel Potenzial. Die ARD Mediathek will Programm für alle bieten. Da kommt es auf die Mischung an.

Gewisse Altersgruppen erreichen wir nicht nur deshalb nicht gut, weil sie grundsätzlich weniger Fernsehen schauen, sondern auch, weil wir noch nicht das passende Programm für sie haben. 


Jahre lang hieß es, man müsse die Mediathek stärken. Entsprechend wurden auch Budgets umgeschichtet, die ARD hat sogar eine Digital-First-Strategie ausgerufen. Nun werden aber schon die ersten Stimmen laut, die davor warnen, per Gießkannenprinzip Budgets in der Mediathek versickern zu lassen. Da wird dann darauf verwiesen, dass das Lineare auch noch wichtig sei. Spüren Sie da Gegenwind?

Der große strukturelle Vorteil, den wir haben, ist, dass wir alles aus einem Guss denken. Ich bin Teil der ARD-Programmdirektion und wir planen Das Erste und die Projekte der Mediathek in einem gemeinsamen Gerüst. Da schieben wir den Regler kontinuierlich von Linear auf Non-Linear. Wir merken aber schon, dass das Gießkannenprinzip an sich nicht das richtige ist. Ich würde den gesamten Prozess in drei Phasen einteilen.

Die da wären?

Am Anfang haben sicherlich noch einige gedacht, das Internet würde wieder weggehen (lacht). Später kam die Zeit, in der alle Redaktionen das Gefühl hatten, dringend mit eigenen Projekten in der Mediathek präsent sein zu müssen. Häufig sind diese Projekte aus dem Bestand heraus gestemmt worden, als Zusatz-Projekte. Jetzt müssen wir die Mediathek konzentrierter bespielen. Da müssen wir uns die Frage stellen, was wir wirklich brauchen, welche Größe Projekte haben sollten, wie viel wir davon brauchen und was wir dafür lassen. Es geht nicht darum, dass alles, was wir im Linearen machen, auch einen digitalen Ableger braucht. Wir müssen fokussieren und Kräfte bündeln, um aufmerksamkeitsstarke Programme zu bekommen, die ihr Versprechen beim Publikum einlösen.

Noch einmal kurz zurück zu den Empfehlungen: Vor unserem Gespräch habe ich geschaut, welche Produktionen in der Mediathek ganz oben redaktionell empfohlen werden. Es gab Serien, Filme, Dokus und Formate von NDR, SWR, WDR, Radio Bremen, HR und MDR. Ist das Zufall, dass da fast alle Landesrundfunkanstalten abgedeckt waren oder wird peinlich genau darauf geachtet, dass alle ihren Platz an der Sonne haben?

(lacht) Nein, da wird nicht peinlich darauf geachtet. BR und RBB haben Sie jetzt zum Beispiel auch gar nicht genannt. Es gibt Arbeitsgruppen, die für die unterschiedlichen Genres nach bestimmten Kriterien entscheiden, welche Formate sich für die Platzierung eignen. Das wird auf Basis der Stoffe entschieden.

Alle großen Projekte kann man vermutlich nicht so prominent platzieren.

Ein ganz wichtiger Aspekt bei der Auffindbarkeit ist die Personalisierung, daran arbeiten wir aktuell sehr intensiv. Künftig wird die Kuratierung sehr viel personalisierter sein als noch heute. Aktuell kuratieren wir noch sehr viel redaktionell. Das hat den Nachteil, dass alle die gleiche Seite ausgespielt bekommen. Die Stärke unseres Angebots ist jedoch, dass wir die größte Auswahl Deutschlands haben. Da ist nicht alles für jeden gleich relevant, zum Beispiel wenn wir an regionale Inhalte denken. Das auch sichtbar zu machen, ist eine Herausforderung. Neben der Personalisierung muss es aber auch immer eine redaktionelle Kuratierung geben, weil es auch unsere Aufgabe ist, Schwerpunkte zu setzen.

Frau Burkhardt, vielen Dank für das Gespräch!