Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Über Erfolg nach Zahlen hingegen nicht. RTL-Chefin Anke Schäferkordt und ihre Mitarbeiter haben in der vergangenen TV-Saison geschafft, was vor einem Jahr unmöglich schien. Selbst DWDL.de hatte deutliche Zweifel geäußert, ob RTL ohne große Programmveränderungen seinen Erfolg beim Publikum noch weiter steigern könnte. Doch das Ergebnis fällt klar aus: In jedem einzelnen Monat der vergangenen TV-Saison konnte RTL den jeweiligen Vorjahreswert übertreffen. RTL war nie der Sender der vielen Überraschungen und so ist auch die vergangene Saison nicht gerade geprägt gewesen von Innovation oder Risikobereitschaft, die aber bei einem starken Fundament auch weniger wichtig sind als bei den Verfolgern von RTL, die inzwischen kaum noch die Rücklichter sehen.
Die Kölner haben das fortgesetzt, was Anke Schäferkordt seit Jahren predigt: Die kontinuierliche Optimierung der bestehenden Programmmarken. Auch wenn das geschmacklich wie beim "Fickfrosch" von "Deutschland sucht den Superstar" schon mal daneben geht, so scheint es der Masse zu gefallen. Es ist also nicht unbedingt sexy, wenn es heißt, man werde die bestehenden Marken optimieren. Aber es wirkt eben in den meisten Fällen. Einzelne Formate im Genre Coaching bzw. Reallife schwächeln zwar, aber der Erfolg von "Undercover Boss" zeigt, dass mit der richtigen Programmidee generell doch noch Musik in diesem Genre steckt. Und "Bauer sucht Frau", "Supertalent" oder "DSDS": All diese Formate zeigen keine Schwäche. Bei Comedy hat RTL mit der Entscheidung für Live-Programme offenbar auf das richtige Pferd gesetzt und das inhaltlich fragwürdige Nachmittagsprogramm holt weiter Spitzenwerte.
Dazu kamen sensationelle Einschaltquoten für das Dschungelcamp. "Ich bin ein Star - holt mich hier raus" hat in der vergangenen Saison für mehr Gesprächsstoff gesorgt als jedes andere TV-Format der Kölner. Das alles führt zu der Frage: Ist RTL auf dem Gipfel des Erfolges? Oder anders gefragt: Geht es eigentlich noch weiter nach oben? Vor einem Jahr bezweifelten das Branchenbeobachter wie DWDL.de und ernteten Unverständnis vom Sender. Ein Jahr später sieht das anders aus. Da dämpft plötzlich sogar die Chefin selbst die Erwartungen. "Nein, wahrscheinlich nicht", sagte Anke Schäferkordt vor wenigen Wochen in einem "Zeit"-Interview auf die Frage ob sich die Quoten ihres Senders noch steigern lassen könnten. Doch das Halten des derzeitigen Rekordniveaus ist ohnehin Herausforderung genug. Denn Schwachstellen gibt es trotz des Gesamterfolges.
Am Wochenende hat RTL kein erfolgreiches Konzept für die Daytime, hat am Sonntagabend oft genug keine Chance gegen "Tatort" und ProSieben. Und ob die Reallife-Formate auf Dauer noch den Mittwochabend tragen können? Mit "Let's dance" hat man in diesem Frühjahr ja schon mal mit einer neuen Programmfarbe experimentiert. Und dann wäre da noch die Fiction. In den vergangenen Monaten kündigte RTL diverse neue Serienprojekte an. Bis zur Fertigstellung dauert es zwar noch, aber zur TV-Saison 2012/13 sollte der Anteil deutscher Fiction im RTL-Programm deutlich steigen. Damit fährt RTL vorausschauend schon einmal die Produktion in einem Genre hoch, das lange Zeit zugunsten von Dokusoaps, also etwa Coachingformaten, weniger stark vertreten war. Die US-Fiction wiederum schwächelte in der vergangenen Saison weiter.
Hier kann RTL nur hoffen, dass es vorerst noch einmal gut geht mit den US-Serien oder sich ggf. schon schneller mit eigenproduzierter Fiction durchmischen lässt, sonst bekommt man an gleich zwei Abenden Probleme. Denn bei den LA Screenings waren für RTL keine allzu vielversprechenden Serien dabei. Vieles war zu abgedreht, zu fantastisch, zu komplex - also nicht geeignet für ein breites Publikum um 20.15 Uhr. Am Ende steht RTL nach der TV-Saison 2010/11 vor den gleichen Herausforderungen wie vor einem Jahr: Was wird nun aus dem Reallife-Genre? Wie lange funktionieren die etablierten US-Serien noch? Und findet man ein Rezept für das Wochenende bzw. insbesonders den Sonntag? Die Fragen sind gleich geblieben. Nur die Haltung von RTL hat sich geändert: Auf dem Gipfel des Erfolges dämpft man die Erwartungen. Ein sympathischer, realistischer Zug.