Alle Augen sind auf Jeppe Gjervig Gram gerichtet. Mal wieder soll er erklären, warum die Dänen als Maß aller Dinge gelten, wenn es um erfolgreiche Serien aus Europa geht. Gram hat zusammen mit zwei Kollegen "Borgen" geschrieben und ist sich bewusst, dass er beim öffentlich-rechtlichen DR unter privilegierten Bedingungen arbeitet. "Wir haben die größtmögliche kreative Freiheit, die ein Sender gewähren kann", sagt er. Dazu gehöre nicht nur ein großzügig bemessener Zeitrahmen für die Entwicklung, sondern auch die Tatsache, dass ein Pitch bei der Fiction-Chefin und beim Senderchef ausreiche, um den Auftrag mitsamt voller Rückendeckung zu bekommen.
Spätestens an dieser Stelle erntet Gram die neidischen Blicke seiner Zuhörer, das ist er schon gewohnt. Er fügt dann mit schüchternem Lächeln hinzu, dass das schöne Modell wohl schnell Geschichte wäre, wenn er und seine Kollegen mehr als einen Flop landen würden. Der "Borgen"-Macher sitzt in einem Südtiroler Berghotel 1.200 Meter oberhalb von Meran. Seine Zuhörer verbringen dort vier Tage in einem Writers' Room, um selbst eine neue TV-Serie zu entwickeln. Sie wollen von Gram wissen, wie die Arbeit in Dänemark organisiert ist. 20 Werktage von 9 bis 17 Uhr waren es, um zu dritt die Storylines für jeweils zwei "Borgen"-Episoden festzulegen. Danach pro Autor eine Woche fürs Treatment, drei Wochen für den ersten Drehbuch-Entwurf, zwei weitere Wochen für den zweiten, aus dem Showrunner Adam Price dann die finale Version zimmerte.
Für die drei deutschen und fünf italienischen Autoren, die auf Einladung der Südtiroler Filmförderung der BLS (Business Location Südtirol) am "Racconti Script Lab" teilnehmen, sieht der Zeitrahmen etwas anders aus: Auf der Berlinale sind sie aus 100 Bewerbern ausgewählt worden, Anfang März saßen sie in einem ersten Workshop zusammen. Darauf folgten sechs Wochen "Virtual Writers' Room" via Google Drive, in denen jeder für sich gearbeitet hat. Am Ende der zweiten vier Tage in den Bergen soll ein pitchfähiges Serienkonzept stehen.
Danach sieht es zunächst nicht unbedingt aus. Zu unterschiedlich scheinen die Meinungen über Storylines und Figuren. Erst als die drei Headwriter und Tutoren – der Deutsche Daniel Speck, bekannt für preisgekrönte Filme wie "Meine verrückte türkische Hochzeit" oder "Maria, ihm schmeckt's nicht", der amerikanische Autor und Script-Consultant Tom Schlesinger sowie der Italiener Giacomo Durzi, der für Sky Italia eine Adaption der Psychiater-Serie "In Treatment" geschrieben hat – das Ausmaß demokratischer Diskussion zugunsten klarer Vorgaben reduzieren, gewinnt der kreative Prozess an Fahrt.
Beim Prinzip Writers' Room - in der US-Serienlandschaft das vorherrschende Prinzip - steht am Anfang meist die kreative Vision eines Autors, der im Verlauf der Entwicklung als Showrunner darauf achtet, dass diese Vision erhalten bleibt. Er bündelt die Kreativität der anderen Autoren und gibt konstruktiv vor, in welche Richtung sich Handlung und Charaktere der Serie entwickeln. "Wenn wir in Deutschland bessere Serien in höherer Stetigkeit haben wollen, werden wir um den gezielten Einsatz von Writers' Rooms nicht herumkommen", findet Speck, der für das ZDF derzeit den Dreiteiler "Bella Germania" schreibt.
"Das ist wie beim Malen", ermahnt Schlesinger seine jungen Kollegen, wenn diese sich im Detail zu verlieren drohen. "Man zeichnet erst einmal einen Entwurf und malt nicht sofort alles mit Farben aus. Wir brauchen zunächst Charakterprofile und Grundkonflikte, müssen aber nicht schon auf jedes Problem eine Antwort haben." Das spezielle Problem dieses Writers' Rooms ist eines, das in der Branchenrealität alle naselang vorkommt: Ein Sender ändert mitten im laufenden Prozess seine Meinung. In diesem Fall ist es der Pay-TV-Anbieter Sky Italia, der mit der BLS kooperiert und einen First-Look-Deal für die Serie hat, die bei "Racconti" entsteht.
Geplant war ursprünglich eine Mystery-Serie mit dem Arbeitstitel "Thresholds", in der ein New Yorker Psychiater nach einem Unfall in den Südtiroler Bergen eine Nahtoderfahrung machen sollte, die sein Leben verändert. Da der Sender jedoch in der Zwischenzeit die Rechte an der französischen Mystery-Serie "Les Revenants" für ein italienisches Remake gekauft hat, will er nicht noch eine Serie haben, in der Tote ins Leben zurückkehren. Das haben die "Racconti"-Macher vor acht Wochen erfahren.
Also musste schnell umgekrempelt werden. Aus "Thresholds" wird nun eine Krimiserie, die sich um das spurlose Verschwinden der 16-jährigen Nina aus einem kleinen Südtiroler Dorf drehen soll. Aufgrund des Zeitdrucks behalten die Autoren dennoch wesentliche Figuren aus ihrem ursprünglichen Ansatz bei, die allerdings entsprechend angepasst werden müssen. Durzi, Speck und Schlesinger geben die neue Grundstruktur vor: In zehn Folgen sollen die ersten zehn Tage nach Ninas Verschwinden erzählt werden, jede Folge einen der möglichen Verdächtigen im Mittelpunkt haben. Parallel wird in Rückblenden die Vorgeschichte der acht Monate zuvor eingestreut.
In den nächsten Wochen schreibt jeder der "Racconti"-Teilnehmer ein Charakter-Dossier und damit auch ein grobes Episoden-Outline. Am 30. Juni soll das Ergebnis auf dem Filmfest München der Fachöffentlichkeit vorgestellt werden. Ein Produzent für die Serie wird noch gesucht. Bis dahin müssen die acht Autoren zusätzlich ein Kurzkonzept für ihre eigenen Serienideen fertig haben, mit denen sie sich für den "Racconti Development Award" bewerben. BLS-Filmförderungschefin Christiana Wertz lobt dafür das dritte Jahr in Folge 5.000 Euro aus, in der Jury sitzen Vertreter von RTL, ZDF, RAI und Beta Film. Der Vorjahressieger "Morgenrot" hat dem Vernehmen nach großes Interesse bei der RAI und einigen deutschen Produzenten hervorgerufen, der Stoff "Sexx etc." ist von Zeitsprung Pictures optioniert worden.
Dass sich die Mühe lohnt, weiß während des Writers' Rooms in Südtirol auch "Borgen"-Autor Gram seinen Kollegen zu vermitteln. Er selbst hat es inzwischen zum Showrunner gebracht, bereitet daheim in Dänemark gerade eine neue Serie rund um Wirtschaftsverbrechen vor, bei der die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen sollen. Als Episoden-Autoren hat er zwei langjährige Freunde angeheuert. Dass selbst Dänemark kein Streichelzoo für Autoren ist, gibt er den "Racconti"-Teilnehmern auch noch mit auf den Weg: Laut Vertrag müsse er mindestens eine Million Zuschauer pro Folge holen – sonst könne der Sender ihn fristlos feuern.