Das erklärte Feindbild der klassischen US-Fernsehindustrie ist der "Cord-Cutter". Mit diesem Begriff bezeichnen die Amerikaner jene Konsumenten, die ihr bestehendes TV-Abo kündigen, um die gewünschten Inhalte fortan ausschließlich online abzurufen. Rund fünf Millionen US-Haushalte fallen unter diese Kategorie. Hinzu kommen um die 16 Millionen "Cord-Nevers", also Haushalte, die noch nie Geld fürs Kabel-TV ausgegeben haben und dies auch nicht planen.
Für "Cord-Cutter" und "Cord-Nevers" herrschen gerade Festtage in Las Vegas. Auf der CES 2016, der weltgrößten Technologie-Messe, hat nicht nur Netflix, der Primus des Over-the-Top-Fernsehens, seine nahezu weltweite Ausbreitung verkündet. Geräteindustrie und Inhalteanbieter präsentieren jede Menge Innovationen, die vor allem zwei Ziele verfolgen: bessere Auffindbarkeit jener Inhalte, die der Zuschauer sucht, und mehr Programm ohne langfristige Abo- oder Infrastruktur-Bindung. Die Folgen für die TV-Wirtschaft sind gewaltig.
Sling TV etwa, der vor einem Jahr auf der CES ins Leben gerufene TV-Streaming-Dienst des Pay-TV-Anbieters Dish Network, hat seine Smart-TV-App komplett überholt. Für 20 Dollar im Monat gibt es nach wie vor rund 20 Sender von AMC über ESPN bis zu Cartoon Network zu sehen. Doch künftig nutzt Sling TV die Nutzungsgewohnheiten seiner Kunden, um gezielt vorzuschlagen, was diese höchstwahrscheinlich genau in diesem Moment sehen wollen. Big Data à la Amazon oder Netflix wird also auch anderer Stelle immer weiter verfeinert.
Bei den meisten Geräteherstellern wie Sony, Samsung, Panasonic oder LG halten neue Smart-TV-Softwares Einzug, die nicht mehr nur die populärsten Streaming-Apps in den Mittelpunkt ihrer Benutzeroberfläche stellen – sondern konsequenterweise gleich die einzelne Sendung. Wer "Big Bang Theory" oder "Breaking Bad" schauen möchte, braucht sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, auf welchem linearen TV-Kanal gerade eine Folge läuft oder welche VoD-Plattform welche Staffeln bereithält – eine einfache Titelsuche, zum Beispiel sprachgesteuert, führt zum Ergebnis.
Am Messestand von LG zeigt das Start-up-Unternehmen Xumo, wie's funktioniert. Der neue Partner hat einen OTT-Aggregator in die LG-Smart-TVs (aber auch in jene von Panasonic oder Vizio) eingebaut, die neben TV-Video-Inhalten auch Videos von BuzzFeed, Condé Nast, Popsugar oder dem "Wall Sreet Journal" nahtlos in ein und denselben Guide integriert. Samsung wiederum stellt neue Geräte vor, die mehrere OTT-Quellen wie Xbox, Apple TV oder Fire TV gleichzeitig erkennt und deren Steuerung auf einer einzigen Fernbedienung vereint. Mit anderen Worten: Die Konkurrenz fürs gute, alte lineare Fernsehen wird auf demselben Bildschirm immer intensiver.

Die 150.000 Fachbesucher aus 150 Ländern, die Las Vegas in diesen Tagen bevölkern, um auf 220.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche 20.000 neue Produkte zu bestaunen, bekommen natürlich noch größere, noch dünnere, noch brillantere TV-Geräte zu sehen. 4K Ultra-HD – also die doppelte Auflösung von herkömmlichem HD – setzt sich dabei als Bildstandard zunehmend durch, obwohl die Verfügbarkeit entsprechender Inhalte immer noch überschaubar ist. Amazon und Netflix lassen ihre Serien seit vorigem Jahr vollständig in 4K produzieren. Warner Bros. hat auf der CES fürs laufende Jahr 35 Blu-ray-Veröffentlichungen von Filmen in 4K angekündigt, Sony Pictures eine für die konzerneigenen Bravia-Modelle optimierte Smart-TV-App namens "Ultra", die hochaufgelöste Filme und Serien enthält.
Das wohl größte Trendthema der CES 2016 neben den allgegenwärtigen Drohnen heißt jedoch Virtual Reality. Nicht nur der lang erwartete Vorbestellungsstart für die Oculus Rift in dieser Woche deutet darauf hin, dass VR bald zu einem Massen-Entertainment-Thema werden könnte. Die amerikanische Consumer Technology Association, Veranstalter der Mega-Messe, spricht vom "Reifen des Ökosystems VR".
Unzählige Produkte und Software-Lösungen rund ums virtuelle Erlebnis unterstreichen den Befund. Die argentinische Firma Voxelus ist mit dem ersten Content-Creator und Marketplace präsent, der es Nutzern ermöglicht, ihre eigenen VR-Umgebungen am Computer zu erschaffen und weiterzuverkaufen. Reality Lab aus Los Angeles zeigt die erste 360-Grad-Live-VR-Kamera namens "Quantum Leap", die in der Lage ist, ein stabiles Live-Bild für VR-Umgebungen zu liefern. TV- und Online-Video-Verantwortliche von Disney bis BroadbandTV versichern auf Panels, VR zähle für sie zu den Topthemen 2016.
"Es sind hunderte Firmen hier in Las Vegas, von denen wir wahnsinnig viel lernen können", sagt Steve Burke, der CEO von NBCUniversal, als er nach der konzertierten Bedrohung fürs klassische Fernsehen gefragt wird. Unumwunden gibt der Boss des TV- und Filmkonzerns zu, dass er die massiven Quoteneinbrüche von Kabel- und Broadcast-Sendern noch vor wenigen Jahren unterschätzt habe. "Wiederholungen von Serien auf kleineren Sendern sind für uns wesentlich schwieriger geworden, seitdem Netflix oder Hulu so großartige Library-Angebote machen", so Burke.
Dennoch sei er überzeugt, dass klassische TV-Werbung in reichweitenstarken Umfeldern auf viele Jahre hinaus unverzichtbar bleiben werde: "Einen Blockbuster-Film wie 'Jurassic World' oder ein neues Auto ohne TV an die Bevölkerung zu bringen, ist kaum vorstellbar." Wie alte und neue Welt harmonisch miteinander in Einklang zu bringen seien, will Burke bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro demonstrieren: Neben dem Olympia-Team von NBC darf erstmals auch die NBCUniversal-Beteiligung BuzzFeed zwölf Reporter nach Rio schicken, um die Athleten "aus einer anderen Perspektive" zu interviewen.