Inspiriert vom Erfolg der "Markenchecks" wütet seit einigen Jahren eine regelrechte "Check"-Flut im Fernsehen. Ob Ernährung, Medizin oder Recht – alle Sendungen eint, dass sie möglichst verbrauchernah sein und den Zuschauern "Orientierung in einer immer unübersichtlicheren Alltagswelt" bieten wollen. So formulierte es jedenfalls ARD-Programmdirektor Volker Herres. Fast vier Jahre ist das nun her und seither wurde im Ersten so ziemlich alles gecheckt, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Yvonne Willicks wollte herausfinden, wie man den besten Kaffee macht, im "Thermomix-Vorwerck-Check" stand der Hype um das teure Küchengerät im Vordergrund und Tim Mälzer informierte darüber, wie ungesund unser Weihnachtsessen ist.

Längst haben sich auch andere Sender von dieser Entwicklung hin ins Seichte inspirieren lassen, allen voran das ZDF, das am Dienstagabend Bratmaxe und Bruzzler testete und Nelson Müller jüngst den "Käse-Check" machen ließ. Dutzende Primetime-Sendeplätze werden auf diese Weise von den Öffentlich-Rechtlichen pro Jahr mit reichlich Oberflächlichkeit gefüllt. All das bringt zwar meist ganz ordentliche Quoten, schärft das Profil der Sender aber nur bedingt – auch, weil relevante Dokumentationen abseits von Verbraucherthemen und Tierfilmen immer häufiger an die Programmränder gedrängt werden. So gesehen wirkt es beinahe schon revolutionär, wenn von diesem Montag an im Ersten anstelle der sonst üblichen Checks eine neue Doku-Reihe den Weg ins Programm schafft.

Unter der bekannten Marke "Die Story" wurde das Label "Was Deutschland bewegt" erfunden, das sich durch eine gewisse Brisanz auszeichnen soll. "Wir wollen im dokumentarischen Bereich aktueller und flexibler werden und mit brisanten Reportagen Themen aufgreifen, die gerade die öffentlichen Diskussionen in Deutschland bestimmten", sagt ARD-Chefredakteur Rainald Becker. Ähnlich äußert sich nun auch Volker Herres, der den Montag als Informationstag durch sechs Dokumentationen zu relevanten Themen "weiter akzentuieren" will, wie er es formuliert. Ob die überschaubare Zahl von sechs Filmen reichen wird, bleibt abzuwarten – in jedem Fall scheint es, als habe ein Umdenken stattgefunden, das nicht wenige in den Anstalten schon seit Jahren forderten.

Was Deutschland bewegt© MDR

Der Anfang ist also gemacht, wenn es nun zum Auftakt um "Die Schattenseiten des Booms" geht. Der Film von Knud Vetten befasst sich mit dem Betrug beim Mindestlohn, von dem auch deutsche Großkonzerne mittelbar profitieren. Herausgekommen ist eine recht klassische Dokumentation, die auch die Grundlage für die anschließende Diskussion bei "Hart aber fair" liefern soll. Eine Woche später gibt es auf dem Sendeplatz um 20:15 Uhr um "Ungleichland – Wie aus Reichtum Macht wird". Dahinter steht das vom WDR und der btf umgesetzte Projekt "docupy", dessen Recherchen zu Ungleichheit bei Macht, Vermögen und Chancen bereits seit November in Videos flossen, die im Netz verbreitet und diskutiert wurden.

"Y-Kollektiv" darf jetzt Fernsehen machen

"Was Deutschland bewegt" bietet also auch das Potenzial, ungewöhnlicheren Herangehensweisen eine Heimat zu bieten – so wie das auch bei "Rabiat" der Fall ist, einer weiteren Doku-Reihe, die von Montag an im Ersten ausgestrahlt wird. Dass das Reportageformat von Radio Bremen ungewöhnliche Töne anschlägt, wird schon in den ersten Minuten der Premieren-Folge sichtbar. Wummernde Musik, wackelnde Kamerabilder und eine Handschrift, die von den Reporterinnen und Reportern geprägt ist, zeichnen "Rabiat" aus. Konzipiert von Manuel Möglich, Dennis Leiffels und Christian Tipke vom gerade erst für den Grimme Online Award nominierten funk-Format "Y-Kollektiv", liegt der Fokus der neuen Reihe auf der teilnehmenden Beobachtung und dem konkreten Erleben.

So wollen die Journalistinnen und Journalisten möglichst nah dran sein, egal ob beim Koks-Deal oder bei einer Partynacht im Sado-Maso-Club. "Das sind Youngster, die subjektiv und mit Haltung sehr intelligent erzählen können", erzählt Radio-Bremen-Kulturchef Thomas von Bötticher. "Sie bauen Klischees in den Filmen auf, um sie postwendend zu brechen. Neue Sichtweisen sollen sich öffnen. Die Filme wollen, sollen, ja sie müssen polarisieren, denn das macht gute Geschichten aus." Im Idealfall soll anschließend im Netz weiterdiskutiert werden – in persönlichen Debatten oder bei Q&As auf Facebook und YouTube.

Es könnte sich also lohnen, künftig einen genaueren Blick zu werfen auf das, was das Netzwerk junger Journalisten nun auch im klassischen Fernsehen auf die Beine stellen wird. Zusammen mit den neuen Primetime-Dokumentationen schafft die ARD damit ein vielversprechendes Informationsangebot, das zeigt, dass Dokus im öffentlich-rechtlichen Fernsehen weit mehr sein können als Thermomix-Checks.

"Was Deutschland bewegt" läuft montags um 20:15 Uhr im Ersten, "Rabiat" folgt um 22:45 Uhr.