Für Anders Jensen muss es sich wie die Quadratur des Kreises anfühlen. Jahrelang war es der unaufhaltsam scheinende Aufstieg von Netflix, der dem CEO der Viaplay Group Rückenwind gab, um seine Sendergruppe radikal zum Streaming-Anbieter umzubauen – früher, schneller und konsequenter als jeder andere europäische TV-Broadcaster. Seit einem guten halben Jahr liegt die Herausforderung nun eher in der Abgrenzung von Netflix. Jensen muss seine Investoren überzeugen, dass Viaplay weiter wachsen kann und nicht vom Absacken des globalen Vorbilds betroffen ist.

"Seitdem der Kurs von Netflix runtergegangen ist, sagen viele Leute, die Streaming-Industrie habe ein Problem. Aber das ist nicht das, was wir sehen", legte sich der Schwede in der "Financial Times" ins Zeug. "Es sollte doch eine Art Weckruf sein, wenn wir völlig anders performen als andere Player. Es ist falsch, den Markt nur anhand eines Anbieters zu definieren." Die nackten Zahlen hat Jensen auf seiner Seite: Seine Plattform hat im ersten Halbjahr um 69 Prozent auf 5,5 Millionen zahlende Abonnenten zugelegt. Das Betriebsergebnis verdoppelte sich im selben Zeitraum auf 74 Millionen Euro.

Momentan ist Viaplay in elf Ländern aktiv. Von den skandiavischen Heimatmärkten aus hat man sich ins Baltikum, nach Polen, in die Niederlande und – seit Dezember – in die USA ausgebreitet. Der Launch in Großbritannien steht unmittelbar bevor. 2023 sollen Deutschland, Österreich, die Schweiz und Kanada folgen. Bis Ende 2025 stehen zwölf Millionen Abonnenten auf dem Planzettel. Jensen kann und will den fahrenden Zug jetzt nicht bremsen. Die Finanzmärkte belohnen ihn freilich nicht dafür: Seit Jahresbeginn hat sich der Viaplay-Kurs halbiert. Dem generellen Trend kann sich kein Streamer so recht entziehen, egal ob gerecht oder ungerecht.

Dabei ist der Blick auf Viaplay allein schon deshalb faszinierend, weil die Geschichte der nordischen Gruppe theoretisch auch die Geschichte von RTL oder ProSiebenSat.1 hätte sein können, also eines traditionell starken, regional verankerten, hauptsächlich werbefinanzierten TV-Konzerns auf der Suche nach der digitalen Zukunft. Bloß, dass man in Köln oder Unterföhring eben nicht halb so beherzt ins Streaming investierte wie in Stockholm. Jensens Frau für die Inhalte, Chief Content Officer Filippa Wallestam, erklärte die "All-in"-Strategie voriges Jahr gegenüber DWDL.de so: "Wir haben uns an einem bestimmten Punkt für Streaming als oberste Priorität entschieden und bewusst in Kauf genommen, dass wir damit eine Disruption fürs bisherige Kerngeschäft auslösen."

Filippa Wallestam © Viaplay Filippa Wallestam
Zwar betreibt die Viaplay Group, die bis Mai noch Nordic Entertainment Group hieß, weiterhin zwölf kommerzielle Free-TV-Sender wie etwa TV3 in Schweden, Dänemark und Norwegen. Doch auf deren Befindlichkeiten wird schon länger nicht mehr so viel Rücksicht genommen, weil die lineare Reichweite ohnehin bröckelt. Wallestams Produktionskurve steigt seither steil nach oben: 2016 landete das erste Original auf der Viaplay-Plattform, 2020 waren es schon 30, voriges Jahr 50, dieses Jahr 70 eigene Serien, Filme und Dokumentationen. Dazu kommt ein starkes Standbein im Sport, weil Viaplay frühzeitig in attraktive Live-Rechte investiert hat, um sich auch so vom großen amerikanischen Wettbewerber abzusetzen. Pünktlich zum Start in Großbritannien akquirierte man dort den Streaming-Dienst Premier Sports, um Zugriff auf dessen Rechte an schottischem, irischem, italienischem und spanischem Fußball sowie an diversen Rugby-Meisterschaften zu erlangen. Viaplay-Boss Jensen, der seit diesem Sommer auch die Übertragungsrechte der britischen Premier League für die Niederlande, Polen und das Baltikum hält, kündigte schon mal lautstark an, das Sportrechte-Duopol zwischen Sky und BT in Großbritannien mittelfristig angreifen zu wollen.

Viaplay Group auf einen Blick

  • Umsatz: 1,2 Milliarden Euro (2021)

  • Führung: Anders Jensen (CEO), Enrique Patrickson (CFO), Filippa Wallestam (Chief Content Officer)

  • Gesellschafter: Streubesitz, größter Einzelaktionär ist die norwegische Zentralbank (9,7%)

  • Wichtige Programme: Hilma, Huss, Love Me, Shadowplay, Stella Blomqvist, Swedish Dicks, Trom, Wisting

Die 39-jährige Schwedin Filippa Wallestam, die es über die letzten acht Jahre von der Boston-Consulting-Karriere zu einer der meistgeschätzten Fiction-Chefinnen Europas brachte, passt derweil ihre Eigenproduktionsstrategie im Zuge der Expansion laufend an. "In unseren nordischen Stammmärkten sind wir besonders für unsere Drama-Serien bekannt", so Wallestam. "Sie definieren die Marke und sind der wichtigste Treiber für Neuabonnenten. In den neuen Märkten dagegen starten wir behutsam, weil wir erst den lokalen Geschmack lernen und nicht jedem einfach Nordic Noir überstülpen wollen." 

Über 90 Prozent der Viaplay Originals, die von der konzerneigenen Produktionseinheit Viaplay Studios hergestellt werden, entstehen in der jeweiligen lokalen Landessprache. "Wir wollen so authentisch wie möglich sein", so Wallestam. Allerdings fiel im Frühjahr 2021 die Entscheidung, zwei bis drei englischsprachige Filme und Serien pro Jahr zu drehen, um durch den entsprechenden Weltvertrieb höhere Budgets zu ermöglichen. Das erste Resultat feiert am 18. November Streaming-Premiere: Der zweifach Oscar-nominierte Regisseur Lasse Hallström porträtiert im Biopic "Hilma" die schwedische Malerin Hilma af Klint, die als Pionierin der abstrakten Malerei gilt – gespielt von Hallströms Ehefrau, Hollywood-Star Lena Olin, und in jungen Jahren von deren Tochter Tora Hallström. Die erste englischsprachige Serie, "King 21", wird derzeit in Schweden und Kanada gedreht und erzählt von der Karriere der schwedischen Eishockey-Legende Börje Salming in der nordamerikanischen NHL.

Auch in internationalen Koproduktionen engagiert Viaplay sich fleißig, zuletzt etwa gemeinsam mit dem ZDF bei "Furia" oder der in Postproduktion befindlichen Mammutserie "Der Schwarm". Einen mehrjährigen Koproduktionsvertrag über sechs englischsprachige Serien hat Wallestam mit Rola Bauer, Chefin von MGM International Television Productions, abgeschlossen. Viaplay erhält dabei die exklusiven Rechte für Skandinavien, Niederlande, Polen und Baltikum, MGM den Rest der Welt. Welche Rechte Wallestams Team bereits für die DACH-Region gesichert hat, hätte man gern erfahren. Doch dazu hüllt Viaplay sich noch in Schweigen.

Europas Studios im Umbruch – bisher erschienen