Dass Krise nicht gleich Krise ist und die aktuelle Problemlage je nach Land sehr unterschiedlich empfunden wird, zeigte sich gleich zu Beginn der Branchendebatten beim Series Mania Forum. Eigentlich hatte die European Audiovisual Observatory (EAO), quasi die offizielle Film- und TV-Beobachtungsstelle des Europarats, eindeutige Zahlen zur rückläufigen Film- und Serienproduktion im vorigen Jahr mitgebracht, so dass die Frage nach Warnsignalen und einer Trendumkehr gerechtfertigt erschien.

Doch eine Produzentin wollte das so nicht stehen lassen: Die Portugiesin Pandora da Cunha Telles, bekannt für ihre Netflix-Serie "Turn of the Tide" und im Nebenamt Vizepräsidentin des European Producers Club (EPC), der 160 unabhängige Produktionsfirmen vertritt, sprach lieber von "Hoffnungs- statt Warnsignalen". Denn: In manchen Märkten wie Deutschland, Polen oder Skandinavien sei zwar tatsächlich ein Abschwung zu spüren, doch in Ländern mit einer Investitionsverpflichtung für Streaming-Plattformen – wie Frankreich, Spanien oder Portugal – gehe es keineswegs bergab. Um diese "Erfolgsstory" zu kopieren, müsse man bloß dem gesetzgeberischen Vorbild folgen.

Die Frage der Investitionsverpflichtung ist auch in Deutschland zum Streitthema geworden, seit Kulturstaatsministerin Claudia Roth sie in ihr Diskussionspapier für eine mögliche Gesetzesnovelle geschrieben hat. Ob sie in Zeiten der Krise wirklich helfen kann, lässt sich faktisch nicht mit Zahlen belegen, weil noch kein europäisches Land nach Einbruch des Serien- und Streamingbooms eine Verpflichtung eingeführt hat. Der Widerspruch ließ jedenfalls nicht lange auf sich warten und kam zwei Stunden später von einer noch größeren Bühne der Branchenkonferenz: "Flexibilität ist ein guter Weg, um Kreativität zu steigern", sagte dort Larry Tanz, Netflix-Content-Chef für die EMEA-Region. "Gesetzliche Quoten und Subquoten legen der Kreativität eher Fesseln an." Tanz führte Spanien als ein Land an, in dem die Investitionsquoten relativ flexibel gehalten seien und Netflix darum gern kräftig investiere. 

In der Tat steht Spanien seit Jahren an vorderster Stelle, wenn es um lokale Beauftragungen der globalen Streamer in Europa geht. Laut den in Lille vorgestellten EAO-Zahlen entstanden dort 27 Staffeln von SVoD-Serien innerhalb des Jahres 2022. Ähnlich hoch kam demnach ansonsten nur Großbritannien mit 25 produzierten Staffeln. Am ehesten dürfte das nicht zuletzt mit der globalen Verwertbarkeit der Weltsprachen Englisch und Spanisch zu tun haben. Das Ungleichgewicht fällt auf: In Deutschland ließen die Streamer im selben Zeitraum nur sieben Serienstaffeln produzieren. Bei den nationalen TV-Sendern gibt es solche Konzentrationen laut EAO nicht, da sie sich jeweils am meisten um ihre eigenen Heimatmärkte kümmern. Ganz vornan in 2022: Großbritannien mit 146 und Deutschland mit 108 Serienstaffeln.

 

Viele Mitbewerber haben gemerkt, dass Streaming ein hartes Geschäft ist, das hohe Investitionen erfordert.
Larry Tanz, Vice President EMEA Content, Netflix

 

Bei aller Konsolidierung im Produktionsmarkt stammt die Mehrzahl der TV- und Streaming-Serienproduktionen in Europa laut EAO immer noch von kleineren unabhängigen Produktionsfirmen – genauer gesagt: 56 Prozent im Jahr 2022. 29 Prozent stammen demnach von den Produktionstöchtern der Sendergruppen, 15 Prozent von den Top 10 der Independents. Bemerkenswert dabei: Stolze 43 Prozent der in der Statistik erfassten Produzenten lieferten 2022 ihre allererste TV-Serie. Es steht zu befürchten, dass gerade die Newcomer vom Rückgang der Produktionsaufträge besonders getroffen werden.

Dass 2024 noch ein hartes Jahr werde, prognostizierte Jane Tranter, Chefin der "Doctor Who"- und "His Dark Materials"-Produktionsfirma Bad Wolf. Tranter sprach von einer "Übergangsperiode zwischen dem übertriebenen Boom und dem neuen Normal". Eine verstärkte Polarisierung der Budgets stellte zudem Andy Harries, Chef des "The Crown"-Produzenten Left Bank Pictures, fest. Während die Budgets insgesamt reduziert würden, gebe es immer noch Ausnahmeproduktionen mit hohen Budgets. Allerdings, so Harries, werde es extrem schwierig, das mittlere Segment von drei bis fünf Millionen Dollar zu finanzieren. "Viele Mitbewerber haben gemerkt, dass Streaming ein hartes Geschäft ist, das hohe Investitionen erfordert", sagte Netflix-Manager Tanz. Dies habe zu entsprechenden Reduktionen, in manchen Fällen auch gleich zum Rückzug aus einzelnen Ländern geführt.

Eine strategische Antwort auf die derzeitige Marktlage, die beim Series Mania Forum besonders im Fokus stand, sind Formatadaptionen. Die Marktforscher von Ampere Analysis wussten zu berichten, dass sie 2023 deutlich zugelegt haben und weniger von rückläufigen Beauftragungen betroffen waren als Originalstoffe. Kein Wunder, schließlich bieten erprobte Formate aus anderen Ländern in Zeiten knapper Kassen ein gewisses Sicherheitsgefühl, ähnlich wie schon viel länger bei Show- und Reality-Formaten üblich. 48 Prozent aller Serien-Adaptionen basierten demnach auf Formaten aus der APAC-Region, insbesondere Japan und Südkorea, 24 Prozent auf westeuropäischen und sieben Prozent auf US-amerikanischen Formaten.

Das Formatgeschäft wachse weiterhin stetig, gab Stephen Driscoll, EMEA-Chef beim Vertrieb All3Media International, zu Protokoll. Sein bisheriges Star-Format: die britische Miniserie "Liar" von Harry und Jack Williams, ursprünglich 2017 eine Koproduktion für ITV und AMC. Zehn verschiedene Adaptionen sind seither zwischen Indien und Deutschland ("Du sollst nicht lügen" von Filmpool Fiction für Sat.1) gelaufen. Eine elfte geht in Kürze in Georgien auf Sendung, vier weitere sind bereits beauftragt.

Yuki Akehi, Strategiechefin von Nippon TV aus Tokio, berichtete unterdessen vom Erfolg ihrer Serie "Mother" – der dramatischen Story einer Frau, die ein Mädchen kidnappt, das von seiner leiblichen Mutter mutmaßlich misshandelt wurde. Nach sieben Adaptionen von der Türkei bis China ist kürzlich auch eine französische Version entstanden. Ein deutscher Produzent, der in Lille im Publikum saß, äußerte die Frage, weshalb das Format es noch nicht nach Deutschland geschafft habe. Man darf annehmen, dass Nippon TV nichts dagegen hätte.

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