Raabs Gegenbeweis in der "Süddeutschen" fällt erwartbar aus: Die Öffentlichkeit spreche sehr wohl eine andere Sprache. "Lena ist die erste Casting-Künstlerin, die es geschafft hat, mit einem zweiten Album in Folge auf Nummer eins der Charts zu landen. Das hat es vorher noch nicht gegeben", sagt Raab. Das ist bemerkenswert und hat - anders als ihm vorgehalten wird - sicher auch nicht allein mit den beiden Dauerwerbesendungen für das Album zu tun. Dafür muss es in der Tat genügend Fans von Lena geben. Aber das bestreitet ja auch niemand. Das Problem: Raabs Aussage widerlegt eben nicht die Kritik am Vorentscheid. Selten war in der Presse die Rede davon, dass die Songs schlecht seien. Nein, sie sind nur in den meisten Fällen im Auge von Presse wie Publikum nicht gerade für den Eurovision Song Contest geeignet. Hier liegt der kleine aber feine Unterschied.

 

 

Der Verkaufserfolg von Lenas neuem Album - er sagt nichts über "Unser Song für Deutschland" aus. Und hier muss sich Raab und alle, die den Vorentscheid geplant haben, Kritik gefallen lassen. Nicht mit dem Holzhammer, aber differenziert. Angesichts der bekannten Rahmenbedingungen, also dem erneuten Antreten Lenas, waren die beiden ersten Shows gut oder zumindest nicht so schlecht wie befürchtet. Es war eine gefällige Musikshow in der einzig Juryurteile ziemlich unnötig wirkten. Doch die Inszenierung stimmte und durch Einspieler zu den Songwritern wurde es auch nicht zum befürchteten Lena-Marathon. Es streckte sich, was bei manchem Zuschauer angesichts der doch etwas eintönigen Songauswahl, allerdings auch in Langeweile umschlug. Doch der eigentliche Fauxpas ist das Finale des Vorentscheids heute im Ersten.

Im vergangenen Jahr war das Finale eine Show voller Entscheidungen, aber auch voller Überraschungen. Es wurde gewählt zwischen zwei Kandidatinnen und Songs, die das Publikum vorher noch nie gehört hatte. Jetzt ist die Kandidatin in diesem Jahr gesetzt. Eine Überraschung weniger. Und die Songs? Wir kennen sie alle schon. Noch eine Überraschung weniger. So wird aus dem Finale von "Unser Song für Deutschland" heute Abend etwas, was man im Berliner Regierunsgviertel vielleicht Abstimmung nach zweiter Lesung nennen würde. Routine eben. Oder Pflichterfüllung. Wie kann versammelten Fernsehexperten so ein eklatanter Fehler in der Dramaturgie passieren? Bei dieser Kritik geht es nicht um geschmäcklerische Fragen. Nicht darum, ob Lena oder ihre Musik gefällt. Es geht um das einfache TV-Handwerk. Es überrascht schon, dass so ein Fehler ausgerechnet Raab - aber natürlich nicht nur ihm allein - passiert.

Am Ende allerdings tröstet eine Tatsache über den deutschen Vorentscheid hinweg: Auch wenn er nicht optimal gelaufen ist und die Titelverteidigung von Lena nicht überall auf Zustimmung stoßen mag, so steht in diesem Jahr - kühn behauptet - ohnehin nicht Lenas Abschneiden im Mittelpunkt beim Eurovision Song Contest. Wir würden uns um das Vergnügen dieses Spektakels im eigenen Land bringen, wenn wir allein ergebnisorientiert auf das Ende der Show warten, um danach in Windeseile Urteile zu fällen. Ja, Raab selbst  mag ergebnisorientiert sein. Aber auch er wird es in diesem Jahr sicher nicht mehr so energisch sehen wie damals in Oslo. Dabei sein ist alles, heißt es bei einem anderen großen Ereignis. Man darf das alles also auch entspannter betrachten. Allen Beteiligten würde das gut tun.