Wenn alles mit rechten Dingen zugeht (und am Dienstagabend genügend Leute Vox eingeschaltet haben), denkt Deutschland in 24 Stunden völlig anders über Boris Becker. Den Boris Becker, der vom Tennishelden zum Themenlieferanten für Klatschspaltenkolumnisten geworden ist; der sich nach einem Twitter-Streit von Oliver Pocher bei RTL hat vorführen lassen; der regelmäßig in die Fallen tappt, die das Fernsehen und die Boulevardmedien ihm aufbauen.
Derselbe Boris Becker hat sich nun von Vox überzeugen lassen, mit seiner Frau Lilly in eine neue Sendung zu kommen, in der es – ausgerechnet! – um privateste Angelegenheiten gehen soll. Um Familie, Liebe, Tod.
Mit einem entscheidenden Unterschied: Diesmal war es eine hervorragende Idee.
„The Story of my Life“ heißt das neueste Vox-Experiment, über dessen Thema Senderchef Bernd Reichart sagt, es sei „eigentlich völlig unsexy für gutes Entertainment“ – um dann gleich hinzuzufügen: „Doch die Umsetzung in diesem Format hat uns alle euphorisiert.“ Das Thema ist: Älterwerden. Und die Besonderheit besteht darin, dass die prominenten Paare, die Moderatorin Désirée Nosbusch zum Talk bittet, dieses Älterwerden im Zeitraffer erfahren.
In zwei Etappen werden die Partner von professionellen Maskenbildnern unabhängig voneinander älter geschminkt. Im Studio begegnen sie sich anschließend einmal um 20, später sogar um 40 Jahre gealtert. Die Zuschauer dürfen beobachten, welche Gefühle das auslöst – und wie die Gäste angesichts dieses ungewöhnlichen Blicks in ihre eigene Zukunft über sich und ihre Beziehung denken.
Die Idee stammt aus den Niederlanden, wo die Produktionsfirma Talpa im vergangenen Jahr für den TV-Sender RTL 4 einen Piloten von „The Story of my Life“ produziert hat, dessen Potenzial auch die Vox-Verantwortlichen überzeugte. Reichart erklärt: „Talk war für uns lange Zeit stark öffentlich-rechtlich besetzt. Umso mehr hat es uns fasziniert, ein Format mit einem so speziellen Twist auszuprobieren.“ Und: „Wir haben die Holländer mit der Beauftragung einer ganzen Staffel sozusagen in der Entschlussfreudigkeit überholt.“
Es ist ein ungewöhnliches Konzept, mit dem sich der Sender zur Hauptsendezeit vorwagt. Weil „The Story of my Life“ so viel leiser und langsamer ist als alles, was das Publikum sonst gewöhnt ist.
Zum Auftakt sitzen Boris und Lilly Becker im Studio, das – anders als im holländischen Vorbild – wohnzimmerhaft in warmen Farben dekoriert ist; hinter ihnen flackert das Feuer im Bildschirmkamin, über dem gerahmte Familienerinnerungen hängen, die der Vorspann als Familienalbum aufblättert. Eine Dreiviertelstunde geht es anschließend nur um sie selbst: wie sie sich getroffen haben, verliebt und getrennt, wieder ineinander verliebt und wie sie künftig zueinander stehen wollen.

Die Masken, mit denen sich das Paar plötzlich um Jahrzehnte gealtert gegenüber sitzt, wirken dabei wie ein Katalysator – auch deshalb, weil keiner der beiden verkleidet aussieht, sondern tatsächlich wie sein (bzw. ihr) der Zukunft entliehenes Ich aus den Jahren 2037 bzw. 2057.
Die Reaktionen sind unterschiedlich: „Oh no, you are old!“, platzt es aus Lilly Becker heraus, die überwältigt vom Moment unbewusst ins Englische verfällt. Tränen fließen, Nosbusch fragt behutsam nach: „Macht dir das Angst?“ Und Lilly antwortet ehrlich: „Ja.“ Um sich anschließend mit Ironie selbst aus der Emotionalität zu retten.
„Schatz, wenn du 70 bist: lieber nicht die Haare so“, sagt sie Boris die Frisur an. Der ist einverstanden, erklärt aber: „Ich würde nie zum Arzt gehen, um Falten ausgleichen zu lassen.“ Woraufhin Lilly kontert: „Wir reden in 20 Jahren.“ Die zwischenzeitliche Heiterkeit passt hervorragend zum Beginn des Gesprächs, als das Paar ihr Kennenlernen Revue passieren lässt – inklusive Boris’ schusseligem Versuch, Lilly zu einem ersten Date zu überreden. Passgenau spielen sich die beiden die Pointen zu, und als Zuschauer ahnt man in diesem Moment zumindest, warum diese beiden Menschen überzeugt sind, sich gefunden zu haben.

Im Laufe der Sendung ist es aber vor allem Boris Becker, der keine Scheu hat, sich noch ein bisschen stärker zu öffnen, während Lilly die Ironie als Schutzschild bei sich behält.
„Ich find das gar nicht so schlimm“, sagt Boris, als er sich das erste Mal selbst in dem von Nosbusch gereichten Handspiegel im Alter von 69 Jahren sehen darf. Es ist ein toller, leiser Moment – auch deshalb, weil die Kamera das Bild für Sekunden einfach stehen lässt und niemand dazwischen redet. Da ist bloß: Boris Becker, der in seine Zukunft sieht, nachdenkt – und für einen Sekundenbruchteil den Anschein erweckt, von seinen Gefühlen übermannt werden zu können. Weil er, wie er kurz darauf erzählt, im eigenen Spiegelbild Züge seiner Mutter wiedererkannt hat.
„Sagenhaft“ findet Becker die nächste Alterungsstufe. Er sei normalerweise nicht so eitel, sich ständig im Spiegel zu betrachten; aber diese Erfahrung ist offensichtlich eine besondere. Und sie sorgt dafür, dass Becker über sich und sein Bild in der Öffentlichkeit spricht, ohne dabei zu wirken, als hätte er sich das zurechtgelegt.

„Ich hoffe, das wird im Alter weniger“, sagt er über den „Kampf mit der öffentlichen Person“ Boris Becker, den er nie so recht zu gewinnen können glaubt. „Ich hab einen hohen Preis für meine Karriere gezahlt. Aber ich würde den immer wieder bezahlen.“ Er sei nicht mehr im Stress, noch etwas leisten zu müssen – außer, wenn es um die Familie gehe, die immer dann anruft, wenn’s irgendwo brennt. Becker spricht über den Umgang des früheren Sportprofis mit körperlichen Einschränkungen, die künstliche Hüfte, dass er später wohl tatsächlich einen Stock brauchen werde, um überhaupt noch laufen zu können („Damit habe ich mich schon lange auseinandergesetzt.“). Und dass er, wenn es irgendwann soweit ist, in Wimbledon begraben werden möchte.
Es ist ein erstaunlich reflektierter, nachdenklicher, einfühlsamer Boris Becker, den die Zuschauer von „The Story of my Life“ zu sehen bekommen. Das Schönste daran ist, dass vieles davon zwar ungeheuer privat ist – aber nichts künstlich oder aufgesetzt. Keine Homestory, eher der kurze Blick ins Seelenleben einer öffentlichen Person, deren Privatleben sonst nahezu ausschließlich in 3-Minuten-Beiträgen und Schlagzeilen verhandelt wird.
„Ich hab einen hohen Preis für meine Karriere gezahlt. Aber ich würde das immer wieder tun.“
Boris Becker in „The Story of my Life“
„Ich fand es traurig zu sehen, wie Boris über viele Jahren in den deutschen Medien dargestellt wurde“, sagte Désirée Nosbusch, die Becker schon vor rund 30 Jahren kennerlernte, kürzlich beim Presse-Screening von „The Story of my Life“ in Hamburg. „Umso glücklicher war ich, dass er sich in unserer Sendung so geöffnet hat.“
Das könnte sich für die Sendung in den kommenden Wochen aber genauso gut als Problem erweisen: Weil Boris und Lilly Becker in der Tat ein Ausnahmepaar sein dürften. Und es alles andere als sicher ist, dass die Zuschauer auch dann noch einschalten, wenn auf den beiden blauen Sesseln Unternehmer-Sohn Frank Otto und seine Freundin Nathalie Volk Platz nehmen. Oder Turner Fabian Hambüchen und Marcia Ev. Oder Guido Maria Kretschmer mit seinem Partner Frank Mutters.
Zu wünschen wäre dem Sender das durchaus. Weil Vox mit „The Story of my Life“ erneut den Beweis dafür erbringt, dass Fernsehen emotional sein kann, ohne dafür Grenzen überschreiten zu müssen. Was in diesem Fall auch ganz wesentlich an der Moderation liegt, die das Gespräch mit den Beckers mit großer Einfühlsamkeit zu leiten weiß, sich zwischendurch ganz bewusst im Hintergrund hält und zulässt, dass ihre Gäste mitbestimmen, wohin sich die Unterhaltung bewegt.
Zum Schluss bittet Nosbusch die beiden, sich aus der Perspektive des Jahres 2057 gegenseitig das sagen, was ihnen wichtig scheint, und er sagt zu ihr den einfachen Satz: „Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.“ Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, erinnert sich Deutschland künftig an diesen Boris Becker.
Vox zeigt sechs Folgen von „The Story of my Life“ immer dienstags um 20.15 Uhr.
DWDL.de-Interview mit Désirée Nosbusch