Die Frau am Steuer ist krank, man sieht es ihr sogar an. Weil das durchs Handy jedoch schwer zu hören ist, muss Iris Brooks zur Bestätigung kurz mal husten, als Tochter Lara fragt, ob ihre Mum krank sei, bevor die nun auch hörbar Kranke das Bewusstsein verliert und trotz Zeitlupenkontakt mit dem gepolsterten Lenkrad telegenes Kunstblut auf die Stirn entlässt. Blaulicht, Klinik. Diagnose hier, Diagnose dort. Medizinische Dramen, menschliche Dramen. Lösung, Heilung, Happyend, Abspann.

So läuft es seit 1998 meist, wenn "In aller Freundschaft" den Dienstagabend im Ersten verfüllt. So läuft es also auch in Folge 793 der Endlosserie. Mit einem Unterschied: Diese Iris Brooks ist kein Episodenrollenname, wie er sonst einen von zwei Erzählsträngen pro Ausgabe verkörpert, sondern Teil einer anderen Endlosserie. Und hier wird es echt persönlich. Denn Iris Brooks, dargestellt von Sarah Masuch, lebt, liebt und streitet, lacht, leidet und arbeitet seit fünf Jahren in der "Lindenstraße", Deutschlands ältester Seifenoper. Ein Dauerbrenner, Suchtfaktor, Selbstläufer. Bis jetzt.

Hiermit nämlich sei mein Auszug verkündet, und er fällt mir nicht leicht. Schließlich saß ich schon beim Erstbezug am 8. Dezember 1985 im Gelsenkirchener Barock meiner Eltern neben Mama vorm Röhrenbildschirm, seinerzeit ein Klotz deutscher Herkunft. Nach jahrelangem Konsum habe ich mangels Zeit, Lust und Fernseher zwar Dreiviertel der Neunziger pausiert. Doch als meine Freundin an einem Herbstsonntag des jungen Millenniums um 18.50 Uhr die "Listra" eingeschaltet hat und mir beiläufig erklärte, warum Marion Beimer plötzlich ein anderes Gesicht hat und wer dieser niedliche Rasta namens Momo ist, kreiste ich erneut im Sog dieses seltsamen Strudels.

Für einen, der schon aus Gründen der Coolness kaum fernsah, war darin alles enthalten, was das fiktionale Unterhaltungsbedürfnis verlangt. Geburt und Sterben, Glück und Leid, Wahrheit und Pflicht, Gesellschaft und Politik, Ideale und Realismus, Liebe und Hass, Problem plus Lösung – die Erfindung des international geachteten Regie-Anarchos Hans W. Geißendörfer versuchte von Beginn an bundesdeutsche Befindlichkeiten aus mittelinker Perspektive in ihrer Gesamtheit abzubilden, und das gelang ihm aus meiner eigenen so trefflich, dass mir die 28 Minuten Lebenszeit zum Wochenendausklang nie vergeudet vorkamen.

Okay: fast nie. Schon früh ging mir die "Lindenstraße" verlässlich auf den Geist, sobald sie witzig sein wollte oder noch schlimmer: pädagogisch. Die kollektiv tänzerische Silvesterparty etwa, bei der sich alle amtierenden Darsteller zwischen den Kulissen der Münchner Fantasiestraße im leibhaftigen Köln-Böcklemünd treffen, ruft bei mir Jahr um Jahr ebenso Bauchweh hervor wie nachgedrehte Dialogfetzen, mit denen die Protagonisten das Tagesgeschehen im Tonfall moralinsaurer Anteilnahme kommentieren. "Furchtbar, das mit Pegida", hört man den Andy da zur Gaby sagen, oder "die armen Leute in Syrien".

Die Lunte am Abschaltimpuls wird kürzer

Schlimmer als alles Zeigefingerpathos ist jedoch längst das Niveau. Gut, die Serie hat Greenhorns groß gemacht. Til Schweiger etwa, Dominik Grafs Muse Ulrike C. Tscharre oder Christian Kahrmann alias Benni Beimer. Dessen Mutter aber wirft seit 32 Jahren ununterbrochen die Frage auf, ob ihr Laienspiel nun Mangel oder Methode ist. Wie sehr Carsten Flöters schwuler TV-Kuss 1987 Kohls konservatives Land empörte, entschädigt nicht für Georg Ueckers Schultheater. Marcus Off interpretiert den Miethai Phil Seegers seit Anbeginn wesensfies wie schwarzweiße Ganoven im Wallace-Krimi. Und als die leibhaftige Sarah Wiener Ende Oktober Alex‘ Kochschule eröffnen half, klangen die Komparsen unglaubhafter als Hochzeitsglocken bei Rosamunde Pilcher.

So zeigt sich mit jeder neuen von mittlerweile 1.652 Episoden, wie irreal die Lindenstraße in ihrer Realitätsbesessenheit ist. Als sei sie jenes "Raumschiff", auf dem sich der Serienvater im Vorwort zum Bildband Die Folgen 1001-1500 einst wähnte: wissenschaftlich fundiert, der Welt entrückt. Die Lunte am Abschaltimpuls wird also kürzer. Und nun spielt der WDR auch noch offen mit dem Feuer. Personalrochaden verschiedener Formate mögen üblich sein; "Polizeiruf"-Ermittler landen im "Tatort" oder "Friends" im "Emergency Room". Doch nachdem bereits der Abstecher von J.R. Ewing in Helgas Reisebüro 2006 eher albern als ulkig war, ist der von Iris in die Sachsenklinik nun einer zu viel. Wie der von Kölns Trainer Peter Stöger vor zwei Wochen. Wie so einiges.

Mord und Totschlag, Samenspenden und Leihmütter, Drogen und Sekten, Terror und Stalking, Ehec und Darknet, Rassismus und Salafismus, dazu Depression, Prostitution, Migration – alles, wirklich alles was im wahren Leben allenfalls ausnahmsweise passiert, ist den 19 Figuren, die schon im 20. Jahrhundert dabei waren, widerfahren. Allein Bennis Bruder Klausi war von Nazi, Antifa, Parteisprecher über Vergewaltigungsopfer, Umweltaktivist, Bulimiker bis hin zum Enthüllungsreporter in wilder Scheinehe mehr als für fünf echte Leben reicht.

Die Ereignisdichte mag dem Anspruch geschuldet sein, ein soziokulturell lückenloses Panoptikum auf engstem Raum zu schaffen. Bevor Mutti Beimer zum Meth-Entzug ins Kloster Kaltenthal zieht, um von dort aus nach der Erfindung eines Wirkstoffs gegen Krebs den Mars zu kolonisieren, tu ich es der Mehrheit jener fünf Millionen Zuschauer besserer Tage gleich und sage: Ade! War schön mit dir. Ich guck mal, was bei Netflix läuft.

Die "Lindenstraßen"-Folge von "In aller Freundschaft" läuft am heutigen Dienstagabend um 21 Uhr im Ersten.