Ein Teil von uns muss nach der Arbeit erst einmal ins Fitnessstudio gehen, um seinen angehäuften Stress abzubauen. Die anderen gehen ins Kino oder zeichnen zu Hause auf ihrer Leinwand mit Ölfarben. Der Otto-Normalpsychopath greift jedoch lieber zum Messer oder zur halbautomatischen Waffe und lässt seinen Frust und/oder seine Gelüste an Mitmenschen aus. Nehmen wir die verschiedenen Szenarien zur Hand und vergleichen sie mit der aktuellen Gesetzeslage, ist die eine etwas illegaler, als die andere. Damit jedoch auch diese Menschen eine Chance darauf haben, ihren Nischenhobbys nachzugehen, hat James DeMonaco 2013 das "Purge"-Universum erfunden. Er dachte sich, dass sich die Kriminalität im Lande dann senken lässt, wenn man seine Bürger für zwölf Stunden im Jahr alles machen lässt, was sie wollen. In der sogenannten "Purge"-Nacht haben also alle Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter Freizeit.

Das Konzept hinter DeMonacos Film-Franchise, das nun bereits vier Filme zählt, hört sich recht faszinierend an. Wenn die Kriminellen dieser Welt nämlich einen Tag im Jahr haben, den sie sich rot ankreuzen und dem sie entgegenfiebern können, könnten die restlichen 364 Tage verhältnismäßig entspannt angegangen werden. Dass es in dieser einen Nacht dann aber besonders absurd, blutig und unmenschlich wird, kann man sich auch ohne filmische Umsetzungen denken. Auf mehr als diese drei Aspekte besinnen sich die Kinoproduktionen "The Purge", "Anarchy", "Election Year" und "The First Purge" tatsächlich auch nicht, weshalb keiner der Ableger vollends überzeugen konnte. Dass das Franchise nun doch von jedem Genre-Fan ins Visier genommen werden sollte, zeigt ausgerechnet eine Serie - und kein Film.

USA Network hat eine zehnteilige erste Staffel veröffentlicht, die es in sich hat. Denn während keiner der Filme über zwei Stunden Laufzeit gekommen ist, hat sich DeMonaco, der auch hier als Showrunner fungiert, nun knapp neun Stunden Zeit nehmen können. Damit kann der Kritikpunkt angegangen werden, der das Franchise bisher am meisten angegriffen hat: Zu wenig Tiefe. Das ist hier nicht der Fall. Das beweist die Pilotfolge bereits wunderbar. In den ersten 50 Minuten der Serie ist der Purge noch nicht ausgebrochen, sondern es werden die wichtigsten Charaktere eingeführt. Natürlich wird damit der Horroraspekt zunächst zurückgestellt. Doch mit dem intensiven Aufbau von Charakteren und Story entfaltet sich die kommende Grausamkeit um ein vielfaches. 

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An dieser Stelle glänzt die Schocker-Serie, die ab heute auch bei Amazon zum Streaming zur Verfügung steht, mit vielfältigen Sichtweisen. So verfolgt der Zuschauer zunächst vier Storystränge, bei denen anfangs noch nicht gesagt werden kann, ob sie im Laufe der Staffel zueinander führen werden: Zum einen gibt es Miguel (Gabriel Chavarria, "Hunter Killer"), einen US Marine, der pünktlich zur Purge Nacht seine verschwundene Schwester sucht. Parallel dazu befindet sich die erfolgreiche Finanzexpertin Jane (Amanda Warren, "Black Mirror") in einem eigentlich sicheren Bürokomplex, während ein verliebtes Pärchen auf einer Party für Superreiche herumtänzelt, die der Schlachtung fröhnen. Am mysteriösesten wirkt jedoch die Sekte, die ohne große Worte eingeführt wird und vom Look her stark an die Frauen aus "The Handmaid's Tale" erinnert. Wie es bei Sekten üblich ist, sorgt auch ihr Motiv für Stirnrunzeln. Sie wollen sich während des Purges opfern, damit die hasserfüllten Seelen Frieden finden. 

Charakterpositionierung und -entwicklung sieht bei der "The Purge"-Serie also bereits besser aus, als bei den Filmen. Diesen Vorteil bringt eine Serie nunmal mit sich, sowie die nötigen Geldmittel und die vorhandene Erfahrung, die der Altmeister Jason Blum mit seinem Produktionshaus liefert. Bei DeMonacos Universum kamen über die Jahre jedoch auch Fragen auf, die nun endlich gelöst werden wollen. Wie funktionieren Krankenhäuser, Gefängnisse und Banken während dieser gesetzlosen Zeit? Werden dem Purge Grenzen gesetzt? Müssen selbst Zoo-Tiere um ihr Leben fürchten? Auch die verschiedenen Systeme dahinter wurden nie wirklich erläutert. Ob es reiche Menschen gibt, die auf den Purge und somit Menschenleben wetten, beispielsweise.

Diese Fragen werden angegangen und mehr oder weniger beantwortet. Das sorgt dafür, dass der Zuschauer diese verrückte Alternative unserer Welt viel eher versteht, als es durch das stumpfe Abschlachten in den Filmen je möglich war. Aber keine Sorge, Freunde blutiger Bilder kommen auch hier auf ihre Kosten. Ob es nun die alptraumartigen Kostüme der Teilnehmer sind, oder ihre "Saw"-artigen Foltermethoden. "The Purge" ist keine Serie, vor die man die Kinder beim Babysitting setzen sollte.

Die erste Staffel von "The Purge" steht bei Amazon ab sofort in der Originalfassung zum Streaming zur Verfügung. Eine deutsche Synchronisation folgt ab dem 21. September.