Sie ist endlich dort, wo sie hingehört: Die zweite Staffel der „Deutschland“-Triologie feiert ihre Premiere bei Amazon Prime Video und wird sich so keiner Quotendiskussion stellen müssen. Die 2015 zunächst von der Kritik euphorisch gefeierte, dann nachträglich anhand der erzielten Quoten bei RTL ernüchternder bewertete Serie, spielt mit der zweiten Staffel jetzt in einer Liga mit all den Netflix- und Amazon-Produktionen, die sich mangels veröffentlichter Zahlen nur der qualitativen Diskussion stellen müssen. Für „Deutschland 86“ kein Problem: Die neue Staffel ist in vielerlei Hinsicht wieder ein Spektakel, dem man sich kaum entziehen kann.



In Afrika versucht Lenora Rauch (Maria Schrader) zu retten, was (bekanntlich) gar nicht mehr zu retten ist: Die Finanzen der maroden DDR. Devisen werden in Ostberlin dringend benötigt und mit zweifelhaften Deals im Ausland entdeckt die ostdeutsche Führung plötzlich die Vorzüge des Kapitalismus für sich. Als ein wichtiger Deal zu platzen droht, greift sie zu ihrer letzten Hoffnung und bietet Martin (Jonas Nay), den nach den Ereignissen von 1983 ins afrikanische Exil verbannten Neffen, um Hilfe. Doch das läuft nicht ganz nach Plan. Ein wahnwitziges Abenteuer beginnt.

Immer wieder springt die Serie zwischen diversen afrikanischen Ländern, West-Berlin und Ost-Berlin hin und her. Bei dem rasanten Erzähltempo ist Aufmerksamkeit gefordert, auch weil sich eine Vielzahl von Plots auftut, die übrigens ohne Kenntnis der ersten Staffel zu verstehen sind, aber natürlich mit weitaus mehr Bedeutung aufgeladen sind, wenn man die Konstellationen der Figuren aus der ersten Staffel kennt. Die vielen Wechsel, kombiniert mit den eigenen Stilen der beiden Regisseure Florian Cossen (für die in Südafrika gedrehten Szenen) und Arne Feldhusen (für die Berliner Szenen), verstärken den wilden, lebendigen Look, der schon „Deutschland 83“ prägte.

Die Spielfreude in allen Gewerken merkt man „Deutschland 86“ an. Visuelle Gimmicks fehlen auch diesmal nicht, ebenso wenig wie der Humor in den Büchern, der mitunter Slapstick-Qualität hat (erklären Sie mal einem lybischen Terroristen Elvis Presley!) und somit auch in dieser Staffel das Ventil ist für eine eigentlich ja dramatische Geschichte vor weltpolitischen Ereignissen. Anna und Jörg Winger sind sich auch beim neuen Partner Amazon treu geblieben. Ja, das Mehr an Budget sieht man der Serie an. Aber zum Glück hat sich nichts an dieser gewissen Leichtigkeit geändert, die dafür sorgt, dass „Deutschland 86“ einen so reinzieht und flott unterhält.

Gibt es Haken? Ja, gibt es. Es dauert bei dem hohen Tempo (so schnell wie „Deutschland 86“ die Schauplätze wechselt, wechselt nicht einmal Amazon Prime Video seinen Markenauftritt) ein bisschen länger bis klar wird, in welche Richtung diese Staffel eigentlich gehen will. Diese Ungewissheit, sie muss nicht stören. Aber bei der ersten Staffel war die Erzählung natürlich stringenter: Wir wurden nach wenigen Minuten schon mit Martin Rauch ins kalte Wasser und seine neuen Aufgaben fürs Vaterland geworfen. „Deutschland 86“ ist komplexer und findet nach einem Fokus auf Deals und bewaffneten Konflikten in Afrika (die insbesondere Folge 3 prägen) ab der vierten Folge wieder näher zur ostdeutschen Heimat, in der übrigens Anke Engelke als Herrin über die Finanzen eine wunderbare Besetzung ist.

Die unfreiwillige Komik der Verzweiflungstaten des Ministerium für Außen- und Innerdeutschen Handel angesichts des dramatischen Devisenmangels wird von Engelkes Figur („Krieg ist auch ein Geschäft“) hervorragend dargestellt. Bei den regelmäßigen Versammlungen zur Erörterung der aktuellen (Finanz-)lage, wird die Schizophrenie zwischen Klassenkampf und Kapitalismus zum Kammerspiel mit „Traumschiff“. Hier wirkt „Deutschland 86“ mitunter surreal, was allerdings nicht der Fantasie sondern viel mehr der guten Recherche von Anne und Jörg Winger geschuldet ist. Es war unglaubliche Realität der späten DDR, in der einerseits die Öffentlichkeit zunehmend den Mangel zu spüren bekam und die Führung mit wahnwitzigen Ideen gegensteuerte - meist aus Überzeugung, mal aber auch aus purer Angst vor den Konsequenzen, wenn man die Wahrheit ausspräche.

„Deutschland 86“ erzählt natürlich von Fluchtversuchen und persönlichen, familiären Dramen, dann aber wieder vom internationalen Terror, Doppelagenten und Spionage. In einem atemberaubenden Tempo verweben sich in der zweiten Hälfte der Staffel all diese Handlungsstränge glücklicherweise wieder und führen zu einem Finale, das weitgehend einfangen kann, was man zuvor neun Folgen lang aufgeworfen hat. Die neue Staffel ist wieder ganz großes Fernsehen und für Amazon eine wichtige Ergänzung des Programm-Portfolios. „Deutschland 86“ schlägt „You are wanted“ mit links.

Übrigens: So manche Serie folgte inzwischen jenen Pfaden, die „Deutschland 83“ vor drei Jahren für die deutsche Serie im Ausland freigetreten hat. Im berechtigten Jubel über viele starke, gänzlich unterschiedliche Serien, die von Journalisten nun aber jedes Mal aufs Neue und damit etwas ermüdend als „erstmals international relevante deutsche Serie“ bezeichnet werden, geht mitunter unter: Es war diese Geschichte rund um den unfreiwillig zum Ost-Agenten gewordenen Martin Rauch, die den Grundstein für den jüngeren Erfolg deutscher Serien im Ausland gelegt hat - weil sie nicht nur verkauft, sondern auch geguckt wurde.

So kann sich jetzt auch die Welt auf den neuesten TV-Export aus Deutschland freuen. Größer, komplexer und gleichzeitig rasanter als die erste Staffel. Das macht wirklich Lust auf „Deutschland 89“.