Das Brusthaar unterm offenen Hemd ist ein Phänomen vergangener Zeiten, als die Herren der Schöpfung noch Kette geraucht, Dreck gefressen und Testosteron versprüht haben wie modernere Männer Mitgefühl. Sie endeten ungefähr 1980, als Deutschlands brusthaarigster Kettenraucherhund im damaligen Springer-Herz Hamburg – nein, vermutlich nicht geboren wurde, sondern aus Blut, Schweiß und Tränen grimmiger Drachen geformt: Julian Reichelt, lebendes Fossil aus dem Präkambrium der Medienbranche, dessen Kürzel kaum zufällig an einen Öl-Bohrer aus Ewing erinnert, der hierzulande zeitgleich zur Welt kam.

Der Streamingdienst des Versandhändlers, habituell ähnlich grob wie sein Reportage-Objekt, hat dem Chefredakteur der größten Zeitung Europas ein Jahr aufs Brusthaar geblickt. Und was die siebenteilige Dokumentation "Bild.Macht.Deutschland?" dabei zutage fördert, ist in vielerlei Hinsicht besonders: Besonders spannend, besonders erhellend, besonders erschreckend. Besonders entlarvend allerdings ist sie nicht.

Die meisten Erkenntnisse der sechsstündigen Frontalberichterstattung aus dem Kreuzberger Hauptquartier zählt schließlich nicht erst zum Bildungskanon der Bundesrepublik, seit Günter Wallraff ihre Methoden 1977 als "Mann, der bei Bild Hans Esser war" enthüllte. Und so wähnt man sich von der 1. bis zur 350. Spielminute Redaktionsbeobachtung buchstäblich gefesselt im publizistischen Circus Maximus voll streitlustiger Gladiatoren mit Kaiser Julian mittendrin, der den Daumen hebt oder senkt, meist letzteres. Tag für Tag für Tag. Zum Auftakt aber senkt er ihn erstmal für die eigenen Leute.

Bild.Macht.Deutschland? © Amazon/Christoph Michaelis "Bild-Chefredakteur Julian Reichelt zündet sich erstmal eine an.

Eigentlich wollte das erste Dokumentprojekt der Plattform aus Deutschland ohne Fußballer im Titel ja den ganz gewöhnlichen Irrsinn des führenden Boulevardmediums begleiten. "Dann kam das Virus", dräut es jedoch von düsterer Musik verstärkt aus dem Off und Christoph Siebers‘ Kamerateam "wurde zum Chronisten der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg". Na mindestens, scheint der Chefredakteur gedanklich hinzuzufügen. Schließlich ist "Bild" ein Synonym für Superlativ. "Wo sind unsere Reporter?", fragt er am 23. März in die Morgenkonferenz mit sehr viel Brusthaar, aber sehr wenig Östrogen, taxiert ihre Zahl auf etwa 382 und will jeden davon auf der Straße sehen. Jetzt. Denn: "Für Reporter heißt Homeoffice draußen arbeiten".

So klingt es ständig im Kommandostand, den Amazon ausgerechnet am Anfang dieser Pandemie betreten durfte und zu Beginn der zweiten Welle wieder verließ. Nur Vertraute wie Reichelts Vize Ronzheimer, BamS-Chefin Alexandra Würzbach und der Onliner Daniel Böcking erheben gelegentlich das Wort gegen die Wucht eines Alpharüden alter Schule, dessen Aschenbecher ähnlich überquillt wie sein Ego. Doch was nach Führerprinzip plus Kadavergehorsam klingt, erweist sich mit jeder Sekunde mehr als Teil eines Paktes, den all die supersmarten, supereloquenten, superbelastbaren Anzugträger in Reichelts Pressearmee abgesehen von Böcking – der zwischendurch das Weite sucht – aus Überzeugung eingegangen sind.

Espresso mit publizistischen Scharfschützen

Von Corona über Pädophilie oder Flüchtlingskrise bis Bundesliga, von Bergamo über Münster und Moria bis Bayern München, von Xi Jinping über Christian Drosten oder Angela Merkel bis Lothar Matthäus: die ganze Mannschaft folgt – ergänzt um verblüffend machismoresiliente Frauen – Reichelts haltungsgetriebenem Dienstleistungsjournalismus in eigener Sache mit fast unverbrüchlicher Corporate Identity. Wer hier nun einwendet, die Heisenbergsche Unschärferelation würde auch diese Beobachtung durch sich selbst verfälschen, irrt gewaltig: Die Ritter in Reichelts Meinungskrieg um Auflagen, Klicks und Rendite sind so wie ab heute am Flatscreen zu sehen. Weshalb Amazon sich das Fragezeichen hinter "Bild.Macht.Deutschland?" auch sparen kann. Bild macht Deutschland. Ausrufezeichen.

Das sieht man allein schon an all den Ministern und Oppositionsführern, Freunde wie Feinde, die Reichelts Ruf ins Studio des hauseigenen TV-Kanals blindlings folgen, am Fahrstuhl gestehen, wie unerlässlich "Bild" als Verbreitungsmedium halt sei und nach Drehschluss beim Espresso mit publizistischen Scharfschützen fraternisieren, die ihre Besucher bei nächster Gelegenheit gnadenlos in den Dreck ziehen. Schließlich geht es der "Bild" bei aller glaubhaften Abscheu über Antisemiten und Kinderschänder nie um Wahrhaftigkeit, gar journalistisches Ethos. Es geht um die Leitwährung des Boulevards: Aufmerksamkeit.

Trumps Retweet von Reichelts chinesisch untertitelter Corona-Rechnung per Videobotschaft an Staatspräsident Xi ist letzterem daher wichtiger als Respekt und Preise. Beides gewinnt man mit Aussagen wie der, "China hat seit 60 Jahren nichts erfunden, was um die Welt ging, außer Viren" ohnehin nicht. Dafür bringt es neben rentabler Empörung das Gefühl, Geschichte zu machen. Jetzt. In der Höhle des Löwen zu zeigen, wie "Bild" sich daran mästet, macht die Reportage daher so sehenswert. Gelegentlich wirkt sie dabei zwar leicht konfus und verliert sich nach viereinhalb Folgen distanzierter Besichtigung zudem in Ehrfurcht vor einigen der 483 Reporter auf der Jagd nach Katastrophen. Männer wie Sturmgewehre: eisern, unbeugsam, kompromisslos, unter Gefechtsdruck schon mal kritikanfällig, fast larmoyant, dafür mit viel mehr Brusthaar als Skrupeln.

"Bild.Macht.Deutschland?" steht ab sofort bei Prime Video zum Streaming bereit.

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