Was gemeines Rauschgift ist und was geselliges Genussmittel, hängt schwer vom juristischen Blickwinkel ab. Während sich Jahr für Jahr ganz legal rund 74.000 der 6,7 Millionen Alkoholiker unter 64 buchstäblich zu Tode saufen, forderte verbotener Stoff von Koks bis Heroin zuletzt keine 1400 Opfer und kostet das Gesundheitssystem einen Bruchteil jener 40 Milliarden Euro, mit denen die Trunksucht per annum zu Buche schlägt. Doch wehe, Sohnemann kifft; obwohl an Marihuana nachweislich noch nie ein Mensch gestorben ist, könnte es sein, dass ihm Papa beim Oktoberfest entrüstet die dritte Maß verbietet.

Im Angesicht dieses kruden Missverhältnisses startet nun ein Serienepos, das als Buch bereits die Großeltern der jungen Zielgruppe in Panik versetzt und 43 Jahre später nichts vom damaligen Erregungspotenzial verloren hat: "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo". Als die Berliner Tatsachenerzählung 1978 zum Bestseller wurde, stand Heroin im Ranking berüchtigter Gifte noch vor Agent Orange und Dioxin. Seinerzeit verging schließlich kaum ein Tag im Land der Dichten & Trinker ohne Schlagzeile vom Goldenen Schuss. Auf dem Höhepunkt der Hysterie setzte ihr Uli Edels Kinoverfilmung 1981 dann unterm Namen der Hauptfigur "Christiane F." ein bildgewaltiges Denkmal – wenngleich kein allzu ausgewogenes.

Das zumindest fand Deutschlands aktuell angesagteste Fernsehautorin Annette Hess ("Ku'damm", "Weissensee"), bot der Constantin Television in Kooperation mit Amazon Prime Video eine Neubearbeitung ihrer eigenen Jugendlektüre an und machte damit alles richtig. Auch in aktualisierter Fassung entflieht die Gesamtschülerin Christiane Felscherinow (Jana McKinna) einer gewalt- und armutsgeprägten Neuköllner Plattenbau-Tristesse ins Westberliner Partymilieu und befreit sich gemeinsam mit der vordigitalen Influencerin Stella (Lena Urzendowsky) mit wachsendem Drogenkonsum aus dem Korsett elterlicher Zwänge und Regeln, die sich bei genauerer Hinsicht als heuchlerischer Selbstbetrug der Flakhelfergeneration erweisen.

Je tiefer Christiane und ihr süßer Freund Benno (Michelangelo Fortuzzi) jedoch in den Sog fröhlicher Freizeitjunkies wie Axel (Jeremias Meyer) und Michi (Bruno Alexander) geraten, desto unaufhaltsamer versinken sie alle im Sumpf aus Prostitution und Beschaffungskriminalität. Es ist eine Abwärtsspirale mit eingebauter Garantie zum kollektiven Zeigefinger einer Mehrheitsgesellschaft, die beim Feierabendbier vorm Fernseher bekanntlich schnell mal zum moralinsauren "Siehste" neigt.

Wir Kinder vom Bahnhof Zoo © Constantin Television/Mike Kraus

Zum Glück allerdings modernisiert der aktuell angesagteste Fernsehregisseur Philipp Kadelbach ("Parfum", "Unsere Mütter, unsere Väter") die Originale nicht nur mit dem horizontal erzählten Besteck des neuen Kinos Serie; verteilt auf acht gut dreiviertelstündige Folgen setzt er den Alarmismus früherer Tage mit dem Hedonismus von heute ins Verhältnis und bringt so unterhaltsames Licht in die Scheinheiligkeit zweier Epochen. Was 1978/81 Heroin/LSD waren, ist 2021 schließlich Ecstasy oder Meth – ähnlich heikle Substanzen wie die Serienkiller Alkohol und Nikotin, aber auch Fluchtwege zur Persönlichkeitsentfaltung Heranwachsender, "die allein erwachsen werden müssen", wie Axels Darsteller Jeremiah Meyer auf den Punkt bringt.

Auf Serienlänge gestreckt, verbringen die neuen Bahnhofszookinder folglich mehr erhellende Zeit denn je im scheinanständigen Ambiente elterlicher Kneipen, Büros und Häuser. Repression bis zur sexuellen Gewalt ist darin ebenso alltäglich wie das Glas Sekt von Stellas trockentherapierter Mutter (Valerie Koch), mit dem sie sich die Vergewaltigung der eigenen Tochter schönsäuft. Selbst der arglose Tierhändler Günther (Bernd Hölscher) ist ein pädophiler Dealer, an dem auch die reiche Babsi (Jana Drinda) zerbricht.

Techno aus Siebziger-Jahre-Boxen

Wenn Kadelbach seine sechs Hauptfiguren am Ende des ersten Teils in einem der besten Momente des Coming-of-Age-Fernsehens wie Engel aus dem Dunst dieser Biedermeierbrände von der Tanzfläche ihres Disco-Refugiums "Sound" aufsteigen lässt, zollt er dem Befreiungsdrang der Jugend damit also gehörigen Respekt – wenngleich ohne die Konsequenzen ihrer beginnenden Sucht schönzureden. Und das Beste: weil dazu Techno der Nullerjahre aus den Boxen der Siebziger wummert, tut Kadelbach das ohne die Materialschlacht des hiesigen Historytainments.

Das Thema sei eben zeitlos, erklärt der Regisseur sein Werk. "Und deshalb sollte weder über Kostüm noch Maske herausgeschält werden, in welcher Epoche wir uns befinden". Autos haben daher zwar noch Stoßstangen, Badezimmer Spiegelschränke und Zigarettenautomaten Schubfächer. Stella liest zur Aufklärung die "Bravo", bezahlt wird in D-Mark, und auf dem Backstage-Klo begegnen wir Alexander Scheer als David Bowie, dessen Nonkonformismus schon auf Papier und Leinwand von zentraler Bedeutung dieser Geschichte war. Anders als bei Zeitreisen hierzulande üblich, füllt die Ausstattung allerdings nirgendwo dramaturgischen Leerstand.

Stattdessen kennzeichnet sie die sozialdemokratische Ära des protestantischen Miteinanders am Übergang zur neoliberalen des individualistischen Gegeneinanders; eine Entwicklung, die der Klimawandel bekanntlich grad rückgängig zu machen scheint. Wenn Kadelbach den "Kindern vom Bahnhof Zoo" ein bisschen "Beat", etwas "Dark" und viel "Trainspotting" unterrührt, reisen Mittfünfziger beim Zusehen zurück in die Zukunft ihrer Jugend und erfahren womöglich vom eigenen Nachwuchs, was sie mit ihrer Gegenwart zu tun hat. Das macht, Achtung Kalauer: von der ersten Minute an süchtig. Nur ohne Risiken und Nebenwirkungen.

"Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" steht ab sofort bei Prime Video zum Streamen bereit

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