Die letzten 12 Monate waren aus TV-Sicht wirklich nicht einfach. Zum einen war da natürlich das alles dominierende Thema Corona und seine vielfältigen Auswirkungen auf die Branche. Und dann ist da aber auch noch der Wettlauf der Reality-TV-Macher gewesen. Im gegenseitigen Niveau-Limbo trieben es allen voran RTL und Sat.1 immer weiter. Zwar hatte man in Unterföhring mit mobbenden Promis bei "Promis unter Palmen" einen starken Aufschlag, aber das wollte man in Köln nicht auf sich sitzen lassen und schon spuckten sich im "Sommerhaus der Stars" die Kandidaten gegenseitig an. Zuletzt zog Sat.1 mit "Promis unter Palmen" noch einmal nach, bevor man aufgrund des tragischen Todes von Willi Herren kurzerhand die Ausstrahlung der Staffel abbrach.

Dass Reality-TV aber auch ganz anders aussehen kann, ist seit wenigen Wochen bei Netflix zu bestaunen. Mitte April hatte der Streamingdienst den ersten Schub an neuen "The Circle"-Folgen online gestellt, seither kommen im Wochentakt neue Ausgaben. An diesem Mittwoch steht nun das Finale an. 

Falls Sie nicht wissen, worum es geht, hier eine kurze Erklärung: "The Circle" ist ein "kruder Mix aus ‘Big Brother’ und unangenehmen WhatsApp-Gruppen", wie es mein ehemaliger Kollege Kevin Hennings schon im Januar 2020 schrieb. In dem Format beziehen die Teilnehmer jeweils eine Wohnung in einem Haus und können fortan nur mit einer Art Sprach-Computer (dem "Circle") untereinander kommunizieren. Vor Beginn müssen sich die Kandidaten entscheiden, ob sie als sie selbst in die Show gehen - oder als jemand anders. 

Das war schon im Januar 2020 unterhaltsam. Nach all den Erfahrungen der Corona-Pandemie passt "The Circle" aber noch viel besser in die aktuelle Zeit. Hier muss jedenfalls nicht andauernd eingeblendet werden, dass alle Teilnehmer vorab getestet wurden. Viel wichtiger aber: Die Show ist pures Reality-TV, das spannend und unterhaltsam gleichermaßen ist. Und potzblitz! Es gibt kein Mobbing, kein Spucken und auch keine homophoben Aussetzer der Kandidaten. Das hat vor allem mit dem extrem guten Casting der Teilnehmer zu tun, aber auch sonst macht "The Circle" vieles anders als andere Reality-Formate. 

Mehr als nur ein Beliebtheitswettbewerb 

So geht es für die Teilnehmer darum, einen möglichst guten Eindruck bei ihren Mitbewohnern zu hinterlassen. Denn in regelmäßigen Votings werden die beliebtesten Bewohner ermittelt - die dürfen dann jemanden aus der Show schmeißen. Und am Ende gewinnt die Person, die von den Bewohnern ganz nach oben gevotet wurde. Unsympathen haben es hier tendenziell schwer - auch wenn sie die Möglichkeit haben, sich zu verstellen. Das würden dann im besten Fall nur die Zuschauer mitbekommen. 

The Circle © Netflix Die Kandidaten treffen frühestens aufeinander, wenn einer ausgeschieden ist.

Doch es würde zu kurz greifen, aus "The Circle" einen schlichten Beliebtheitswettbewerb zu machen. Als Zuschauer lernt man die Teilnehmer nach und nach kennen. So werden auch Sympathieträgern mitunter Unsympathen und anders herum. Trotz der fehlenden direkten Konfrontation von Gesicht zu Gesicht schwingt das Sympathie-Pendel immer wieder stark von einer in die andere Richtung. Eine sichere Storyline sind für die Macher auch immer die sogenannten Catfishes. Das sind Personen in der Show, die sich als jemand anders ausgeben. Irgendwer fällt immer auf sie rein - und wenn sich diese Person dann gegenüber dem Catfish öffnet, kann man dem schlechten Gewissen beim Arbeiten zusehen. 

Solche Catfishes gibt’s natürlich auch in der zweiten Staffel von "The Circle". Der 24-jährige River heißt eigentlich Lee und ist 58 Jahre alt. Lisa Delcampo ist die langjährige Assistentin von NSYNC-Mitglied Lance Bass und geht als solcher in die Show. Und die 32-jährige Deleesa gibt sich als ihr Ehemann Trevor aus. Im Fall von Deleesa wären ihre Mitbewohner ihr bzw. ihm fast auf die Spur gekommen, weil sie in einem Spiel aus Sicht der anderen Teilnehmer erstaunlich viel kreatives Können bewies. Spätestens aber als Deleesa als Trevor aber drei Basketballspieler auf einem Foto identifizieren konnte, hatte sie ihre Mitbewohner im Sack. 

Das Problem mit dem Vortäuschen

Das Vortäuschen einer anderen Person kann aber auch ziemlich in die Hose gehen. Das musste zuletzt der 20-jährige Jack feststellen, der sich als die junge Studentin Emily ausgab. Als die Bewohner bei einem Spiel an Puppen ihr Schmink-Talent unter Beweis stellen mussten, schwante Jack schon, dass das das Ende seiner Emily-Erzählung sein könnte. Und genau so kam es dann auch. Umso erstaunlicher, dass er sich im letzten Moment nicht noch dazu entschließen konnte, reinen Tisch zu machen. Denn auch solche Plot-Twists sind bei "The Circle" möglich.

Jack/Emily ist aber auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Macher von "The Circle" clever sind. Ohne zu viel zu verraten: "The Circle" macht, ähnlich wie "Big Brother", seine eigenen Regeln und oft werden diese auch gar nicht so viel erklärt, um dann eben auch mal alle zu überraschen. Außerdem haben die Macher ein sehr gutes Händchen für gute Cliffhanger. Die Versuchung, gleich eine weitere Folge dranzuhängen, wenn die andere vorbei ist, ist jedenfalls sehr groß. 

Bestes Reality-Fernsehen

Natürlich wird auch mal bei "The Circle" gelästert, auch Streitigkeiten kommen vor. Möglich wird das, weil die Teilnehmer manchmal anonym schreiben können. Und manche Kandidaten vertrauen einander tatsächlich und können so offen reden. Den meisten ist jedenfalls immer klar: Das hier ist ein Spiel. Am Ende ist hier niemand jemandem allzu böse - und vor allem sind keine Menschen beschädigt. Wer ausscheidet, darf noch bei einem "Circle"-Bewohner vorbeischauen. Auch das ist meistens ein großes Hallo, bei dem sich die zwei Teilnehmer zuerst einmal in den Armen liegen, um dann aufzuarbeiten, was da in den letzten Tagen passiert ist. Spannend bei "The Circle" ist auch immer, welche Allianzen sich formen, wer misstrauisch ist gegenüber seinen vermeintlichen Mitstreitern und wer das zu seinem Vorteil nutzen kann.

Seinen Ursprung hat "The Circle" in Großbritannien, bei Channel 4 sind bereits drei reguläre Staffeln und eine Promi-Ausgabe zu sehen gewesen. Natürlich ist es anfangs schon ein wenig gewöhnungsbedürftig, wenn die Teilnehmer im "Circle" ständig alles vorlesen und mit sich selbst sprechen. Aber überlegen Sie mal, wie es ihnen selbst dabei gehen muss. Wer sich auf "The Circle" einlässt, kann sich auf spannendes Reality-TV mit sehr unterschiedlichen Charakteren freuen. Und das garantiert ohne homophobe Prinzen oder mobbende und spuckende Kandidaten. Die größte Frage an Netflix eigentlich ist nur diese: Wann gibt es endlich eine deutsche Adaption? 

Die finale Folge der zweiten "The Circle"-Staffel ist ab sofort bei Netflix verfügbar.