Ein-und-zwanzig. Eine Sekunde ist schnell vergangen. Was heißt es, wenn jemand eine Sekunde von einer TV-Sendung streamt oder auf dem Fernseher ansieht? Es kann heißen, dass diese Person dranbleibt – eine Minute, eine Stunde, bis zum Ende der Sendung. Es kann aber auch heißen, dass sie in Sekunde zwei schon wieder weg ist, weil sie sich vertippt hat oder eh nur im flüchtigen Durchzappen begriffen ist. Von einer Sekunde Nutzung aufs Zuschauerinteresse an einer Sendung zu schließen, ist also schlechterdings unmöglich. 

Und doch will die AGF Videoforschung der Branche jetzt weismachen, die Leistungsfähigkeit des TV-Angebots lasse sich genau daran bemessen. Wer mindestens eine Sekunde "Tatort", "Bachelor" oder "Germany's Next Topmodel" abgespielt hat, wird für die Nettoreichweiten von "TV + Streaming" und "Streaming only" in den neuen monatlichen Streaming-Hitlisten gezählt. Das ergibt schön hohe Zahlen. Solche Nettoreichweiten seien ein "sehr robuster und gebräuchlicher Leistungswert für Streaming", lässt die AGF wissen. Er gewährleiste einen "fairen Vergleich mit anderen Streaming-Diensten, die nicht unter AGF-Messung stehen und oft keine zeitbezogenen Kennziffern zur Verfügung stellen".

Dass ausgerechnet die zentrale Messinstanz der deutschen TV-Sender diesen Weg einschlägt, ist mehr als verwunderlich. Gegen allen Wildwuchs im Onlinevideo-Dickicht verteidigte man bisher stets den eigenen, vergleichsweise harten Marktstandard: Hinter der Angabe, wie viele Zuschauer eine TV-Sendung hatte, steckt normalerweise nicht die Nettoreichweite, sondern die durchschnittliche Sehbeteiligung, sprich: die Zuschauer werden anteilig gemäß ihrer Nutzungsdauer gezählt. Wer die ganze Sendung guckt, fällt viel stärker ins Gewicht als jemand, der nur kurz dranbleibt. Das hat den Vorteil, dass der Wert, der dabei herauskommt, echte Aussagekraft über das Zuschauerinteresse an diesem speziellen Programm besitzt. Für den Werbemarkt nicht ganz unwichtig, wenn man auf die Aufmerksamkeit schließen will, die einem Spot im Umfeld dieses Programms zuteil wird.

Aus Sicht der Sender mag es mitunter frustrierend erscheinen, dass man als Folge seiner harten Währung nicht mit so luftig-hohen Zahlen hantieren kann wie etwa YouTube oder Netflix, aber trotzdem oft mit deren eigentlich nicht vergleichbaren Reichweiten verglichen wird. Bei manchen Privatsendern hat sich daher die Unsitte eingebürgert, Nettoreichweiten und Sehbeteiligungen in ihren Erfolgsmeldungen wild zu vermischen (DWDL.de berichtete). Zumindest die AGF als Joint Industry Committee stand jedoch dafür, Vergleichbarkeit anzustreben, indem man neue Player möglichst in den hohen AGF-Standard integriert und nicht den hohen AGF-Standard aufweicht, um anderen entgegenzukommen. Oder wie es die damals frisch angetretene Geschäftsführerin Kerstin Niederauer-Kopf beim AGF-Forum 2019 formulierte: Ihr sei jeder willkommen, der sich "von uns unter vergleichbaren Rahmenbedingungen transparent messen lassen will". Ein durchaus mühsamer Weg, wie sich zuletzt etwa am Abbruch der Kooperation zwischen AGF und YouTube zeigte.

Zahleninflation durch 0/1-Verfahren

Aber sollte man deshalb gleich die Stabilität der eigenen Währung opfern? Dieselbe Kerstin Niederauer-Kopf sagt heute im Gespräch mit dem Medienmagazin DWDL.de: "Die AGF entwickelt das Forschungssystem kontinuierlich weiter. Dieser Prozess wird angesichts der Veränderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, auch nicht mehr enden. Daher sollte man Prozesse und Vorgehensweisen immer wieder einer kritischen Überprüfung unterziehen. Mit der zunehmenden Ablösung von der Linearität müssen wir uns verstärkt auf neue Metriken konzentrieren." Dass sie als Folge dieses Richtungswechsels nun jeden Monat Hitlisten "auf Basis des 0/1-Verfahrens" veröffentlichen lässt, also TV- und Streaming-Nettoreichweiten aller Personen, die "mindestens einmal für eine Sekunde erreicht wurden", sendet ein verheerendes Signal. Wieso sollten Sender nach einer solchen Zahleninflation jemals wieder zu einer defensiveren Währung zurückkehren? Jetzt hat jeder die offizielle Legitimation von der Währungshüterin AGF, die höchsten verfügbaren Werte zu kommunizieren.

Dabei wäre es ohne Weiteres möglich, auch beim Streaming von TV-Sendungen auf die gewohnte Sehbeteiligung in Abhängigkeit von der Nutzungsdauer abzustellen. Man braucht dafür neben der Zahl der Videoabrufe die Gesamtlänge eines Videos und die durchschnittliche Nutzungsdauer der Abrufenden. Da die AGF ohnehin nur Streams von linear ausgestrahlten TV-Sendungen und nur Sendungen mit einer Mindestlänge von fünf Minuten berücksichtigt, liegt alles Nötige vor. TV und Streaming würden so vergleichbar – auf dem Qualitätsniveau von TV. Vertragspartner der AGF haben Zugriff auf die entsprechenden Werte, sie werden allerdings nicht veröfffentlicht.

6,91 oder 19,52 Millionen für "Die Toten von Marnow"?

Welchen Unterschied das macht, lässt sich gut am Beispiel des ARD-Achtteilers "Die Toten von Marnow" ablesen, der sich im März sowohl linear als auch in der Mediathek als Blockbuster erwies. Die lineare Ausstrahlung der ersten vier Episoden am 13. März im Ersten erzielte eine durchschnittliche Sehbeteiligung von 5,95 Millionen Zuschauern. Über den gesamten Monat holte Folge 1 in der ARD-Mediathek 1,70 Millionen Abrufe mit einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von 23 Minuten. Die Werte für die Folgen 2 bis 4 schwankten zwischen 1,22 und 1,61 Millionen sowie zwischen 22 und 28 Minuten. Umgerechnet in eine durchschnittliche Sehbeteiligung der vier Folgen ergeben sich daraus 0,96 Millionen Streaming-Zuschauer.

Methodisch gesehen, vergleicht man so Äpfel mit Äpfeln und darf die 0,96 Millionen vom Streaming zu den 5,95 Millionen vom TV hinzuaddieren. Macht eine konvergente Sehbeteiligung von 6,91 Millionen Zuschauern. In der März-Hitliste der AGF (die nicht veröffentlicht wurde, aber den Vertragspartnern vorliegt) klingt das Resultat für dieselben vier Episoden viel spektakulärer: 17,91 Millionen lineare Zuschauer plus 1,61 Millionen in der Mediathek ergeben insgesamt 19,52 Millionen, also fast das Dreifache – wenn man die Nettoreichweite all jener misst, die mindestens eine Sekunde geguckt haben. Sieht zwar toll aus, hat aber null Aussagekraft.

Noch windelweicher als Netflix und YouTube

Abgesehen davon, dass sich das TV-System selbst entwertet, wenn es den weicheren Währungen von weniger transparenten internationalen Plattformen nachläuft, bringt es die AGF mit ihrer 1-Sekunden-Regel nun sogar fertig, als Windelweichster von allen dazustehen. Bei Netflix etwa sind mindestens zwei Minuten Nutzung erforderlich, ehe ein View gezählt wird. Bei YouTube zählt ein vermarktbarer Videoview ab 30 Sekunden, bei Facebook, Instagram und Twitter ab drei Sekunden. Die AGF-Chefin sagt dazu gegenüber DWDL.de: "Wir behalten die Frage der Mindestnutzungsdauer im Blick. Ich gehe davon aus, dass wir diese in einem zweiten Schritt härter definieren werden." Und sie weist ausdrücklich darauf hin, dass die gegenwärtige Methode "dem Beschluss unserer Gremien bei der Initialisierung des Projekts" entspreche.

Wer soll diese Logik verstehen? Dieselben TV-Sender, die sich jetzt Hitlisten mit den höchstmöglichen Nettoreichweiten genehmigen, sollen in ein paar Monaten ihre Kriterien verschärfen, auf dass sie dann wieder niedrigere Werte ausweisen? Klingt eher unrealistisch. Unklug ist das Vorgehen auch deshalb, weil in den Sendern keineswegs Einigkeit herrscht. Manche ihrer versierten Medienforscher setzen sich derzeit intern dafür ein, dass Streaming-Erfolge künftig nicht mehr mit den schieren Abrufzahlen, sondern mit der besser vergleichbaren Sehbeteiligung gefeiert werden sollten. Wem an einer stabilen TV-Währung gelegen ist, sollte diesem Rat folgen.

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