Quereinsteigern? Nein, Tina Hassel ist natürlich nicht neu im Mediengeschäft. Im Gegenteil: Die 57-jährige Journalistin war schon Volontärin beim WDR als ihr Gegenkandidat Norbert Himmler sich erst fürs Studium einschrieb. Seit 30 Jahren erlebt die ebenfalls studierte Hassel die ARD in diversen Positionen, mal als Korrespondentin in Paris oder Washington, mal als Moderatorin und Redakteurin, sowie in Personalverantwortung als WDR-Auslandschefin und seit 2015 bis heute als Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios. Hassel war fast überall - aber nicht auf dem Mainzer Lerchenberg.

Es ist die erste Dimension, die bei dieser Wahl eine Rolle spielt: Der im Haus bekannte Bewerber und die Neue. Frischer Wind von außen wird gerne positiv asoziiert, doch das ZDF im Jahr 2021 steht personell mit einigen Verpflichtungen, strategisch und auch gemessen am Zuspruch der Zuschauerinnen und Zuschauer so gut da wie lange nicht. Im ZDF selbst gibt es deshalb keine spürbare Wechselstimmung, doch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben keine Stimme bei der Entscheidung: Es ist der indirekt politisch geprägte Fernsehrat, der an diesem Morgen entscheiden wird.

Mitten in die aktuelle Diskussion über die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen schlug der sogenannte "rote Freundeskreis" im ZDF-Fernsehrat, die also eher SPD-nahen Vertreter, eine ARD-Journalistin als neue Intendantin in Mainz vor. Ganz unabhängig von der Gender-Frage, die mit ihrer Kandidatur als zweite Dimension prominent aufs Tableau kam, geht es bei der Abstimmung an diesem Freitagmorgen also auch um die Frage des künftigen Verhältnisses von ARD und ZDF. So zumindest deuten es insbesondere die, die Frau Hassel kritisch gegenüber stehen. Wozu braucht das besser aufgestellte ZDF eine Chefin aus der ARD?

Weitere Kooperation wie bei den Mediatheken kürzlich angekündigt, wird begrüßt. Eine jahrzehntelange ARD-Journalistin an die ZDF-Spitze zu setzen, geht dann aber manchem Mitglied im Fernsehrat zu weit. Und im Sender selbst herrscht Ratlosigkeit: Wofür steht Tina Hassel? Den Mitgliedern des Fernsehrats hat sie dies schon erklärt. Aus der Belegschaft kommt keine Ablehnung, aber die Sorge vor Ungewissheit. Der Stil und die Ziele von Norbert Himmler sind vertraut und der Erfolg drängt nicht zu radikalen Änderungen.

Natürlich steht aber auch die Gender-Frage im Raum: Seit der Gründung des ZDF stand noch nie eine Frau an der Spitze. Ein Umstand, dem Programmdirektor Norbert Himmler mit noch so guten Argumenten nicht beikommen kann - obwohl er davon reichlich im Gepäck hat. Während die ARD zuletzt mit Personalschwund Schlagzeilen machte, holte das ZDF Sabine Heinrich, Giovanni Zarrella und Mai Thi Nguyen-Kim an Bord. Und Jan Böhmermann ist zwar nicht neu in der ZDF-Familie, aber neu im Hauptprogramm und da auf Anhieb sehr erfolgreich. 

Während beispielsweise im WDR gerne Journalisten an die Spitze gewählt wurden, ist es beim ZDF beinahe Tradition, dass die neue Intendanz aus der Programmdirektion gewählt wird. Eine Tradition mit Wettbewerbsvorteil: Ein Intendant Himmler ist im Haus bekannt und kennt selbst das Haus. Es entfällt die Gewöhnung aneinander. Fragen Sie mal den WDR in Köln, da mussten Buhrow und Belegschaft erst warm werden miteinander - und das obwohl Buhrow immerhin ein Kind der ARD war. Darüber hinaus kennt die neue Intendanz auf diesem Wege das Programm und kann es glaubhaft vertreten bzw. bei Kritik dafür verantwortlich gemacht werden.

In einem TV-Geschäft mit langen Vorläufen bei Prestigeprojekten hatte das ZDF damit in der Vergangenheit stets Übergangsphasen vermieden, in denen Intendanten noch Programm des Vorgängers zu verantworten hatten, das sie mitunter gar nicht wollten. Läge auf dem Lerchenberg wirklich viel im Argen, wäre der Impuls zum Wechsel auf das und die Unbekannte aus rationalen Gründen größer. Aber so erscheint die Wahl an diesem Freitagmorgen eine Frage zwischen pragmatischen und politischen Beweggründen zu sein. 

Viel spannender dürfte daher die Entscheidung über die neue Programmdirektion werden. Denn wenn Himmler vom Fernsehrat nicht zum neuen Intendanten gewählt wird, dürfte ein solches Votum gegen seine Vision fürs ZDF kaum mit einer Fortsetzung seiner Arbeit als Programmdirektor vereinbar sein. Und das obwohl er in der Branche geschätzt wird und dem ZDF zur klaren Marktführerschaft verholfen hat. Sollte er neuer Intendant werden, ist die Position ebenso neu zu besetzen.

Starke Frauen für die neue Programmdirektion und später einmal Intendanz gibt es im ZDF reichlich: Allen voran zum Beispiel Natalie Müller-Elmau, die 3sat-Koordinatiorin. Oder ZDFneo-Chefin Nadine Bilke? Wenn die Gender-Karte für eine neue Intendant Tina Hassel sprechen soll, dann muss man fragen, wie sich die Frauen in Führungspositionen beim ZDF fühlen müssen, eine externe Bewerberin vor die Nase gesetzt zu bekommen. Bettina Schausten beispielsweise, stv. Chefredakteurin des Hauses und Leiterin der Redaktion Aktuelles. Sie galt sogar als mögliche Intendantin, steht bislang aber offiziell noch nicht zur Debatte.

Hassels Wahl wäre politisch, die Himmler pragmatisch

Was nicht ist, kann aber noch passieren: Wenn sich der ZDF-Fernsehrat am Freitag nicht mit einer 3/5-Mehrheit für Hassel oder Himmler entscheidet, kommt es zur Hängepartie bis zur nächsten Fernsehratssitzung mit möglicherweise neuen Vorschlägen der beiden großen Lager im Fernsehrat. Allerdings gilt Schausten unter einem Intendant Norbert Himmler auch als aussichtsreichste Kandidatin auf den Posten der Chefredakteurin, wenn Peter Frey im kommenden Jahr ausscheidet. Sie wäre hier, wie auch Müller-Elmau oder Bilke in der Programmdirektion - die erste Frau in dem Amt.

Dass der rote Freundeskreis mit Tina Hassel eine ernstzunehmende Bewerberin ins Rennen schickt, hat dem Diskurs über die Zukunft des ZDF sicher geholfen: Wettbewerb der Ideen ist in einer Kreativbranche nie verkehrt. Und doch stellt sich die Frage: Spielt die Kenntnis des Senders, den sie führen soll, keine Rolle? Und muss man dafür alle denkbaren Kandidatinnen aus dem ZDF übergehen? Hassels Wahl wäre eine politisch motivierte, die von Himmler pragmatisch. Auch aus der Produzentenlandschaft kommt in vielen Gesprächen der vergangenen Wochen viel Unterstützung für den amtierenden Programmdirektor, verbunden mit dem Wunsch nach Verlässlichkeit.

Norbert Himmler konnte das ZDF-Programm prägen mit neuen Köpfen, einer Öffnung des Programmschemas und neuen ambitionierteren fiktionalen Stoffen. Natürlich wurde der Idealismus des ehemaligen ZDFneo-Chefs in seinen Jahren als ZDF-Programmdirektor von der Realität eingeholt. Umsichtiger ist er eben geworden. Im Handeln wie auch dem, was er sagt - Verantwortung entwöhnt mit der Zeit Gelassenheit. Ein echter Verdienst von Himmler ist sein Dirigieren der verschiedenen Genres und Redaktionen. Von außen betrachtet dauerte sicher manches länger als nötig, von innen betrachtet ging es so schnell wie möglich. Die Erwartungen von außen mit den Gegebenheiten in der Anstalt in Einklang zu bringen, braucht eben einen Dirigenten mit Gespür für die richtige Tonlage.

Eine Qualität, die auch als Intendant nicht schaden kann. Tina Hassel mag sie auch besitzen. Im ZDF kann man darüber nur rätseln. Sie bleibt dort vorerst die große Unbekannte. Aus dem Haus heißt es: Sollte Norbert Himmler die Wahl im ZDF-Fernsehrat gewinnen, wisse man woran man sei. Sollte Tina Hassel die Wahl gewinnen, wird man am Lerchenberg versuchen, aus ihren ersten Worten als gewählte Intendantin so viel wie möglich zu deuten. Auch das sei möglich. Die schlimmste aller Varianten wäre jedoch die Hängepartie, wenn der ZDF-Fernsehrat an diesem Morgen zu keiner Mehrheit kommt und die Entscheidung um Monate vertagt wird. Das würde das ZDF auf der Höhe des Erfolgs lähmen - und das ganz ohne Not.