Ende August des vergangenen Jahres hatte Bernd Stelter zwei Minuten Zeit, um zur Primetime im Episodenformat "#VOXStimme" übers Älterwerden zu sinnieren, und erzählte, dass es gar nicht so schlimm gewesen sei, 60 zu werden – weil er jetzt mit großer Gelassenheit durchs Leben bummele und niemandem mehr was beweisen müsse: "60 werden ist nicht blöd. Ist cool!", sagte Stelter und erinnerte sich: "30 werden war blöd. Vorne 'ne drei, auf einen Schlag uralt! In der Disco haben sie gesagt: Lass den Opa mal vorbei."

Und natürlich lässt es erheblich an Feingefühl vermissen, den Opa … – äh, den Ermöglicher dieses Statements kurz vor seinem eigenen 30. Geburtstag derart in die Pfanne zu hauen.

Aber, um im Stelter-Bild zu bleiben: Sollen doch all die die TikTok-Influencer:innen, die Fast und Virtual Channels ruhig über den in ihren Augen großväterlich wirkenden TV-Senior spotten! Dem wird das wenig anhaben. Denn auf den Tag genau drei Jahrzehnte nach dem Start fühlt sich Vox lebendiger an als je zuvor.

Anständig bleiben lohnt sich auch

Das liegt nicht nur an der bewegten Geschichte des Senders, der hochtrabend als "Ereignisfernsehen" loslegte und fast insolvent ging, eine zeitlang unter Rupert Murdoch mit Spielfilmwiederholungen vor sich hin mäanderte, nach der Übernahme durch die Mediengruppe RTL zum erfolgreichen US-Crime-Serienkanal wurde und inzwischen längst einen eigenen Weg gefunden hat, sein Publikum besonders voxig zu entertainen. (Hier geht's zur kompletten Vox-Chronik von DWDL.de.)

Dabei hat die kleine RTL-Schwester über viele Jahre immer wieder aufs Neue bewiesen, dass Privatfernsehen eben nicht besonders schrill, überdreht oder gar verletzend sein muss, um beim Publikum auf Akzeptanz zu stoßen. Sondern, dass der Erfolg sich auch einstellt, wenn man – weitgehend – anständig bliebt. (Über Ausrutscher wie "Lust oder Frust – Die Sexbox" gehen wir mal geburtstagsgroßzügig hinweg.)

Vox ist der sendende Beweis dafür, dass man einen ganzen Fernsehkanal im Grunde genommen nur mit einer Handvoll erfolgreicher Formate bestreiten kann – wenn deren Tonalität stimmt und stets behutsam der aktuellen Zeit angepasst. Okay: und so lange sich die Programmräder einfach weiter mit diversen "CSI"-Ablegern, "Medical Detectives" und "Criminal Intent" auskleiden lassen.

Immer wieder ein blaues Auge

Das ist gar nicht böse gemeint, weil diese Handvoll Formate für den Sender ungeheuer prägend ist. Vox, das ist Kochshows und Dating, Auswandern und Haustiere, Promi-Tratsch und Alltagsquatsch, Handwerkern und Heiraten. Die rote Kugel steht für Wohlfühlen, Heiterkeit und Augenzwinkern, aus dem Alltag ausbrechen und ihn gleichzeitig genießen. Vox ist "Kitchen Impossible", "Perfektes Dinner" und "Grill den Henssler", "Goodbye Deutschland", "Der Hundeprofi", "First Dates Hotel", "Shopping Queen", "Ab ins Beet", "Hot oder Schrott" und natürlich "Sing meinen Song" und "Die Höhle der Löwen". Wobei die beiden zuletzt genannten Formate zugleich als Ausnahmeerscheinungen in der Vox-Welt bezeichnet werden müssen, weil sie sich tapfer gegen den Fluch der Flops gestemmt haben, der nach wie vor über dem Sender liegt.

Es ist zumindest bemerkenswert, wie spektakulär es den Programm-Verantwortlichen im Laufe der Jahre immer wieder nicht gelungen ist, die etablierten Vox-Genres nachhaltig um neue zu erweitern. Es vergeht fast kein Jahr, ohne dass man sich in Köln-Deutz damit ein blaues Auge holt: So wie 2021 mit "Die rote Kugel" und dem wirklich misslungenen Ausflug in die Welt der Quizhows. Oder zwei Jahre zuvor mit dem Versuch, samt "Survivor" in Richtung Abenteuer-Reality zu steuern. (Und erinnert sich noch jemand an den Versuch von 2009, mit "Die Talentsucher" ein eigenes Modelcasting zu etablieren?)

Vox fällt mit seinen Ideen regelmäßig auf die Schnauze, selbst wenn ganz große Namen dahinter stehen: Guido Maria Kretschmer kann seit "Geschickt eingefädelt" und "Guidos Wedding Race" ein Lied davon singen. Und auch für Tim Mälzer, den King of Kurzschluss, lief in seiner TV-Heimat nicht immer alles so rosig wie jetzt.

Fernsehen, das zwischen den Generationen vermittelt

Aber genau das muss man dem Sender ganz unbedingt zu Gute halten: dass er es trotzdem jedes Mal wieder versucht. (Und ja, von Zeit zu Zeit, auch dafür belohnt wird: wie mit dem Fiction-Erfolg "Club der roten Bänder", der keinen etablierten Sendeplatz brauchte, um vom Publikum gefunden und zum Erfolg zum werden. Selbst wenn alle darauffolgenden Serienversuche scheiterten.)

Obwohl das Primärziel drei Jahrzehnte nach dem Wir-machen-alles-anders-Versprechen ganz klar in der reinen Unterhaltung des Publikums liegt, gehört es (inzwischen wieder) zum Selbstverständnis von Vox, das Programm zumindest von Zeit zur Zeit mit einer gesellschaftlichen Relevanz aufzuladen, wie es sie sonst im deutschen Privatfernsehen lange nicht gegeben hat. Die beiden Projekte "Wir sind klein, und ihr seid alt" und "Altes Haus sucht Mitbewohner" (2019 und 2020) waren der Versuch, ein Fernsehen zu machen, das sprichwörtlich zwischen den Generationen vermittelt: Was passiert, wenn zehn Kindergartenkinder ihre Vormittage regelmäßig mit einsamen Senior:innen verbringen? Und welche Dynamiken entwickeln sich, wenn Senior:innen den Platz in ihren für sie alleine zu großen Wohnungen günstig an junge Menschen vermieten, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen?

Ende des vergangenen Jahres schickte Vox schließlich Tim Mälzer und André Dietz in den Schwarzwald, um sie dort den Beweis antreten zu lassen, dass 13 Menschen mit Down-Syndrom mit gründlicher Vorbereitung tatsächlich alleine ein Restaurant betreiben können: Gerade ist "Zum Schwarzwälder Hirsch" höchst verdient für den Grimme Preis nominiert worden.

Den Quotendruck im Nacken

Im anfangs bereist erwähnten Kurzformat "#VOXStimme" wechseln sich Prominente und Normalos täglich mit Plädoyers für Themen ab, die ihnen besonders am Herzen liegen: Marina Weisband fordert mehr Gelder für die Erforschung des Chronique Fatique Syndroms (ME/CFS), unter dem sie selbst leidet. Eine Mutter wünscht sich von der Gesellschaft mehr Transgender-Toleranz. Günther Jauch motiviert zum Weltalphabetisierungstag: Lernen Sie Lesen und Schreiben! Zwei Single-Mamas, die ihre Kinder durch Samenspende bekommen haben, pochen auf gleiche Rechte für alle Formen von Familie. Und TikTok-Star Nadine Breaty will Mentale Gesundheit zum Schulfach machen.

Ebenfalls im vergangenen Jahr ging Nora Tschirner in "Reine Kopfsache" auf eine Reise in ihrer eigene Psyche, in der Hoffnung, ein Unfalltrauma aufzuarbeiten und sich von ihren Ängsten zu befreien. Und "2 Zimmer, Küche, Abzocke" dokumentierte und erklärte anschaulich Missstände auf dem deutschen Mietmarkt.

Jedes diese Formate hat gesellschaftliche Relevanz – und entspricht dem, was man sich von einem zeitgemäßen öffentlich-rechtlichen Fernsehen wünschen würde. Nur halt: oft jünger und moderner inszeniert, um damit Zielgruppen zu erreichen, die sich eher selten rund um "heute journal" oder "Weltspiegel" einfangen lassen dürften. Weswegen es sich nochmal dafür zu plädieren lohnt, solche Bestrebungen privatwirtschaftlich agierender Sender künftig auch mit einer Beteiligung an den Rundfunkbeiträgen zu belohnen (mit entsprechenden Auflagen) – um noch mehr davon zu produzieren zu lassen, ohne dass diesen Projekten der Quotendruck im Nacken säße.

Ganz unbedingt eine Bereicherung

Das ist – um Himmels Willen! – kein Plädoyer dafür, Vox öffentlich-rechtlicher werden zu lassen als ARD und ZDF. Zumal gerade das Entertainment-Urvertrauen, das die Zuschauer:innen dem Sender schenken, dabei helfen kann, sich auf neue Formate einzulassen.

Außerdem macht es großes Vergnügen, dabei zuzusehen, wie Vox aus Genres, die längst ausgequetscht schienen, doch immer noch was Neues gezaubert bekommt. So wie bei "Mälzer und Henssler liefern ab", dem Kochduell, bei der von den Stars in der Küche die Essensvorlieben ihrer nächsten Gäste geraten und diese in stimmige Liefer-Menüs umgesetzt werden müssen, um diese an die Tür zu bringen. Oder wie bei "Das spanische Dorf", für das neun deutsche Paare mit ihrer Geschäftsidee um die Gunst der 400 Einwohner:innen des spanischen Örtchens Rubite kämpften, um dort günstiges Wohneigentum zu erhalten und Ehrenbürger:innen zu werden. (Leider etwas zu träge erzählt.)

Vielleicht lässt sich sagen, dass die besondere Stärke von Vox darin besteht, ein in erster Linie Leichtigkeit ausstrahlendes Programm zu machen, in das sich auch ernstere Themen stimmig einfügen, wenn man sie richtig anpackt und erzählt.

Das mag mit dem, was mal als "Ereignisfernsehen" gemeint war, nicht viel zu tun haben; aber es ist eine Fähigkeit, um die sich Vox von vielen Wettbewerbern beneiden lassen kann. Und: für das deutsche Fernsehen ganz unbedingt eine Bereicherung.

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