Am Mittwoch ging es auf der ANGA COM in Köln um die Zukunft der Reichweitenmessung - und der Bestandsaufnahme von Michael Burst, Senior Vice President Corporate Services  bei RTL Deutschland, wollte da keiner widersprechen: "Es geht nicht mehr so, wie wir das viele Jahre lang gemacht haben". Denn es ist ja nun keine neue Erkenntnis, dass die Welt sich geändert hat. Die Quote am Morgen danach taugt nur noch als "erste Indikation", wie AGF-Chefin Kerstin Niederauer-Kopf sagte. Burst bezeichnete die Zahl am Morgen danach gar als "Pain", schließlich steigere sich die Nutzung über alle Ausspielwege an den Tagen danach inzwischen teils um 30 bis 40 Prozent.

"Wir haben ein sehr vitales Interesse daran, dem Overnight Reporting den Währungscharakter zu entziehen", sagt Burst. Wünschenswert wäre aus seiner Sicht das, was zuletzt schon als X+7 diskutiert wurde - also eine Zahl, die lineare und zeitversetzte Nutzung konvergent über Ausspielwege hinweg nach sieben Tagen angibt. "Dann hätten wir eine Zahl, die dem Medium gerechter wird", so Burst. Ein Ziel, das auch der AGF am Herzen liegt: "Man tut dem Medium TV keinen Gefallen, immer nur auf die Overnights zu schauen", sagt Kerstin Niederauer-Kopf.

Doch ganz so einfach ist eine Veränderung ja nicht, darauf müssen sich in der AGF erst Mal alle beteiligten Unternehmen einigen. Dabei dürfte das noch die kleinere Herausforderung sein, denn der Bewegtbildmarkt besteht ja längst nicht mehr nur aus den einheimischen Playern, dazu kommen die großen Streamingdienste aber auch die Nutzung etwa von YouTube wächst selbst auf dem großen Screen rasant und wird immer bedeutsamer. Den ganzen Markt abzubilden, ist dabei längst ein Ding der Unmöglichkeit, doch zumindest die großen internationalen Streamer, die ja auch hierzulande einen wachsenden Teil des Werbegeldes abgreifen, will man zu einer einheitlichen Messung bewegen.

Entsprechende Abkommen mit dem Ziel einer Vollmessung hat die AGF sowohl mit Netflix als auch mit Prime Video schon abgeschlossen, doch noch steht man hier am Anfang. In der Zwischenzeit hantieren die Plattformen aber längst mit eigenen Metriken, die meist nicht unabhängig erhoben werden - und wenn dann auch noch Social-Media-Plattformen und ähnliches hinzukommen, dann wird's erst richtig kompliziert. Für Sabine Lipken von der Agenturgruppe WPP (früher Group M) ist dieses Wirrwarr das tägliche Geschäft: "Die verschiedenen Messungen versuchen wir als Agentur für unsere Kunden zu harmonisieren, damit wir einen holistischen Plan bilden und eine gemeinsame Basis haben und nicht Äpfel mit Birnen vergleichen."

Doch kann man wirklich diese auf unterschiedlicher Basis erhobenen Zahlen und unterschiedlichen Metriken seriös vergleichen? "Wir haben eine große Verantwortung für das, was wir tun. Sender und Agenturen haben es mit riesigen Investitionen zu tun. Es kann nicht sein, dass solche Standards zusammengebaut und -geschoben werden mit unterschiedlichen Datenquellen, bei denen mir jemand einen Datenkoffer über den Zaun wirft und sagt: Ich lasse mich zwar nicht messen, aber du kannst es gerne nehmen und in einen solchen Standard mit einbauen." Sie verwies dabei auch auf den teils gewaltigen Anteil an Bot-Traffic, der in digitalen Zahlen enthalten sei.

Aus Sicht einer Währungshüterin wie der AGF ist also klar: Ein einheitlicher Standard muss her. Sie verglich die Situation mit dem Jahr 1988. Damals einigten sich öffentlich-rechtliche und private Sender auf eine gemeinsame, unabhängige Messung der TV-Reichweiten durch die AGF. Eine solche Bereitschaft brauche es heute auch wieder. Marin Curkovic von All Eyes On Screens zeigte sich aber skeptisch: "Die Welt ist heute eine andere wie 1988." Die Diskussion über Standards sei zwar sehr richtig, aber auch sehr deutsch.

Curkovic plädierte für schnellere und dann vielleicht auch nicht ganz perfekte Lösungen. "Wir verkomplizieren das total. Wir haben viel darüber gesprochen, auf Standards und Perfektion zu setzen. Aber im Vergleich gewinnen gerade die, die sich in den letzten Jahren nicht an den Standards beteiligt haben. Da geht das Geld heute hin. Wenn wir das nicht anders, vielleicht offener, pragmatischer angehen, dann gibt es die große Gefahr, dass jeder, der etwas behauptet, sehr schnell zu Werbegeldern kommt." Man werde es wohl nie wieder schaffen, einen Standard wie 1988 zu schaffen, sondern müsse lernen mit den Flickenteppich zu leben.

Dass die jetzige Situation für alle Beteiligten unbefriedigend ist, ist aber klar. Sabine Lipken sprach sich ebenfalls für Pragmatismus aus, forderte aber auch ein gemeinsames Verständnis, wie gemessen wird - und welche Metriken und KPIs verwendet werden. Apropos: Hier gerät auch im TV-Bereich die seit Jahrzehnten etablierte "durchschnittliche Sehbeteiligung" langsam in den Hintergrund, um Vergleichbarkeit über Plattformen hinweg zu gewährleisten rückt die Nettoreichweite stärker in den Vordergrund - hier wäre nur noch zu diskutieren, ob man hier auf eine längere Nutzungsdauer als die derzeit angelegte Sekunde setzt. 

Eine einheitliche oder zumindest vergleichbare Reichweitenmessung der Zukunft bleibt damit also vorerst weiter ein noch ungelöstes Problem. Nicht nur in Deutschland: "Die Probleme haben alle Märkte weltweit. Dass jemand schon den Stein der Weisen gefunden hat, ist mir nicht bekannt", so Lipken. Und Deutschland ist trotz des Wunsches nach Perfektion da bislang wohl gar nicht so schlecht aufgestellt.  Für die AGF gab's auf dem Panel jedenfalls auch viel Lob: "Gerade das, was in den letzten zwei bis drei Jahren bei der AGF geschehen ist, ist groundbreaking", lobte etwa Michael Burst auch mit Blick auf Cross-Reach, das sogar Display-Reichweite mitmessen kann. Und auch Sabine Lipken lobte, dass die AGF "schon Geschwindigkeit aufgenommen" hat. "Aber wir müssen noch schneller werden".