Kategorie Fiktion

Zeit der Helden

Ein “Echtzeit-Experiment” wurde mit dieser bezaubernden neunteiligen Familienserie gewagt: Sie erzählt von durchschnittlichen Menschen in einer Lebensphase, die man “Midlife-Crisis” nennt. Und sie erzählt das mit einer Dramaturgie, in der die erzählte Zeit der realen Lebenszeit entspricht, die bei der Ausstrahlung in der Osterwoche letzten Jahres auch mit der jeweiligen Tageszeit identisch war. Fünf Abende sind das gewesen, an denen für die Figuren wie für die Zuschauer derselbe Zeitraum von 30 bzw. 45 Minuten verstrichen ist.

Und was passiert, wenn man ein solches Experiment zu sehen bekommt, in dem ja schon von der strukturellen Anlage her nicht mehr geschehen soll als das, was dem begrenzten Zeitrahmen der Echtzeit-Episoden entspricht, in denen kein Raum für Rückblenden, Zeitsprünge oder große dramatische Handlungsbögen ist? Man verliebt sich bis über beide Ohren in die unspektakuläre Magie, die von dieser außergewöhnlichen Familienserie ausgeht. Wie fesselnd, wie anrührend, zärtlich und tragikomisch können Liebes-, Lebens- und Familienkrisen “normaler” Menschen im Fernsehen thematisiert werden, wenn sie sich nach so lebensklug geschriebenen, fein gesponnenen Drehbüchern entfalten dürfen. Wie kunstvoll realistisch, fast dokumentarisch ist das inszeniert. Und mit welcher Anmut lädt dieses Ensemble wunderbarer Schauspieler dazu ein, ihren Figuren durch die aufbrechenden Krisen und Konflikte zu folgen.

Da sind die Brunners (Julia Jäger und Oliver Stokowski), Elektroinstallateur, Hausfrau, Eltern zweier halberwachsener Kinder (Jasna Fritzi Bauer und Karl Alexander Seidel), ihre kinderlosen Nachbarn (Inka Friedrich und Thomas Loibl) und deren Freund, der Single Christoph (Patrick Heyn), der für einen geplanten Skiurlaub die Studentin Katharina (Palina Rojinski) vom Escort-Service engagiert hat. Sie alle erleben im Lauf einer Woche, jeder auf seine Weise, Veränderungen, Enttäuschungen, den Abschied von Illusionen, die Hoffnung auf Neuanfang. Einer verliert seinen Job, eine der Frauen träumt sich in ein anderes Liebesleben hinein, erlebt aber eine herbe Niederlage, während ihr Mann daran scheitert, sie mit einem Swimmingpool zu überraschen. Doch durch all die scheinbar alltäglichen, oft urkomischen Krisen dieser Mittvierziger schimmern die großen, jeden Menschen bewegenden Lebensthemen: die Sehnsucht nach Liebe und Vertrauen, Angst vor Krankheit, vor dem Alter und davor, das Leben verpasst zu haben. So, wie es hier dargeboten wird, ist es ein Erlebnis, das glücklich macht: Es beweist, was das Fernsehen zustande bringen kann, wenn es in so guten Händen ist.

Mord in Eberswalde

Im Mai 1969 werden in einem Waldgrundstück zwei Jungen tot aufgefunden, brutal gequält und ermordet. „Mord in Eberswalde“ liegt ein historischer Kriminalfall zugrunde. Es fehlt das Motiv, es gibt keine Spuren, mit den herkömmlichen Ermittlungsmethoden ist der Fall nicht zu lösen. Hauptmann der Kriminalpolizei Heinz Gödicke, den Ronald Zehrfeld sehr überzeugend zu einer vielschichtigen Figur ausarbeitet, leitet diese Ermittlungen. Mit dem Major der Staatssicherheit Stefan Witt, gespielt von Florian Panzner, hat der Drehbuchautor seinem Kriminalisten ein ganz gegensätzliches Pendant geschaffen. Die beiden Männer geraten in eine existenzielle Konkurrenzsituation: um die Lösung des Falls und um Clara, die Frau des Stasimajors. Im subtilen Kräftemessen von Zehrfeld und Panzner liegt eine der besonderen Qualitäten des Films.

Durch das kluge Drehbuch von Holger Karsten Schmidt entsteht ein differenziertes Bild über die DDR, ohne dass die DDR vordergründiges Thema ist. Mit der ideenreich eingefügten BRD-Parallelgeschichte um den mehrfachen Kindermörder Jürgen Bartsch gelingt es überzeugend, Zeitgeschichte einzufangen. Genaue Figuren, die ohne die bekannten Klischees auskommen und die Protagonisten nicht denunzieren, sondern ernst nehmen, machen glaubhaft, was da auch in einem politischen Kontext verhandelt wird. Subtil auch der Humor, der im angespannten Verhältnis aller Akteure entsteht und ebenfalls ein stimmiges Bild der Verhältnisse in der DDR zeichnet. In Nebenrollen überzeugen Ulrike C. Tscharre, Martin Brambach und Godehard Giese. Das warme Szenenbild lebt vom perfekt gesetzten Licht und einer feinen, detailgetreuen Ausstattung, die beiläufig daher kommt und die Geschichte überzeugend illustriert.

Der Film zeigt seine Stärke dort, wo er, unabhängig von den realen Ereignissen, souverän mit den Mittel des Fiktionalen spielt. Die Liebegeschichte zwischen Clara und Gödicke schafft zu dem Abenteuer um die Ergreifung des Täters eine weitere spannende Handlungsebene. Regisseur Stephan Wagner gelingt es, eine dichte Atmosphäre zu erzeugen, es gibt viele starke Szenen, die in Erinnerung bleiben: so die erste Begegnung von Staatsanwalt und Ermittler im Wald oder Gödicke, der in den eigenen Abgrund blickt, als er versucht, sich in den Täter hineinzuversetzen; oder Hagedorn, der für einen Lehrfilm der Polizei seine Tat nachstellt; und nicht zuletzt der Todesschuss am Ende.

Es ist ein großes Glück, dass mit dem heutigen Film- und Serienwissen über Mörder, Forensiker und hochspezialisierte Ermittler ein historisch so hervorragend kontextualisierter Film entstanden ist, der all das ausblendet und ein authentisches Stück Kriminalgeschichte erzählt. Zur außergewöhnlichen Regieleistung gehört auch der Mut, die zähe Ermittlungsarbeit als bleierne Zeit zu gestalten und dieser Zähigkeit eine eigene spannungsreiche und poetische Kraft zu verleihen.

Tatort: Angezählt

„Ich brauche wahrscheinlich zehn Leichen, um was zu spüren." Das sagt Ermittlerin Bibi Fellner ganz am Anfang dieses in jedem Sinne exzeptionellen „Tatort“ zu ihrer Therapeutin. Eine Lüge, natürlich. Denn eine einzige Leiche reicht, und Fellner findet sich emotional tief verstrickt in einen besonders düsteren Fall. Eine ehemalige Prostituierte wurde ermordet, angezündet von einem kleinen Roma-Jungen, der die junge rauchende Frau aus einer Wasserpistole mit Benzin anspritzte. Das Opfer war eine alte Bekannte von Fellner, die Polizistin hatte die Ex-Prostituierte einst überzeugt, gegen ihren Zuhälter auszusagen und ihr dafür Schutz angeboten.

Die Suche nach dem Anstifter zum Feuermord im Wiener Rotlichtmilieu wird für Fellner deshalb zum privaten Feldzug – und der Krimi zu einer hoch komplexen Angelegenheit: Zum einen ist „Angezählt“ ein dichtes psychologisches Drama über Schuld und Sühne, zum anderen ein detailgenaues, authentisches Stadtporträt, welches das nachtschwarze Wien als einen einzigen großen, entmenschlichten Sex-Discounter zeigt. Drehbuchautor Martin Ambrosch und Regisseurin Sabine Derflinger halten gekonnt die Waage zwischen den beiden großen Stoffen, verflechten sie perfekt ineinander.

Auf einer außergewöhnlichen Rechercheleistung aufbauend, erzählen die Filmemacher aus dem bulgarisch-türkischen Rotlichtmilieu, in dem sich junge, zum Teil aus ihrer Heimat im Balkan entführte Sexarbeiterinnen in sogenannten Tischmädchenlokalen für 30 Euro oder weniger anbieten müssen. Die Fakten werden mit trockener Härte ausgebreitet. Preise, Techniken und Machtverhältnisse in dem Elendssegment der Wiener Sexindustrie werden genau aufgeführt, niemals aber stellt der Film das Leid seiner Protagonistinnen aus.

Das ist vor allem auch den beiden großen Ermittlerdarstellern zu verdanken. Adele Neuhauser stürzt sich als Major Fellner mit ganzem Körpereinsatz in den Fall, verquickt in ihrem formatsprengenden Spiel die persönliche Leidensgeschichte der Polizistin mit denen der ausgebeuteten Prostituierten. Harald Krassnitzer als Major Moritz Eisner setzt mit wenigen Gesten die wichtigen Kontrapunkte, die seine über Grenzen gehende Partnerin immer wieder auf die Erde zurückholen. Mit der Episode „Angezählt“ haben sich Fellner und Eisner endgültig als das vielleicht stärkste Team aller „Tatorte“ etabliert: immer nüchtern in der Analyse - und doch persönlich in die Verbrechen verkeilt.

So geht in diesem „Tatort“ auch die ungewöhnliche Erzählkonstruktion auf: Der Mörder, der minderjährige Roma-Junge, ist von Anfang an bekannt. Und statt ihn zu jagen, müssen die Kommissare ihn auch noch beschützten. Dass ausgerechnet diese extrem gewagte Pointe funktioniert, zeigt noch einmal die Ausnahmestellung des Krimi-Meisterwerks inmitten der Sonntags-Täterrätsel.

Grenzgang

Die Figuren, die uns das Fernsehen ans Herz legen will, stehen oft unter Kuratel. Wir sollen sie verstehen. Sollen bangen, aber nicht zu sehr. Sollen getröstet werden. Sollen bestärkt entlassen werden in die Nacht und ins Leben. So sehen dann die Menschen, die Figuren oft aus: zwangserheitert, bevormundet, tatkräftig, themengeleitet, quotenverpflichtet, qualitätssiegelbeschwert, programmbeflissen, unfrei.

„Grenzgang“ jedoch wagt sich hinaus, mutet uns offene Figuren und Geschichten zu, lässt seine Menschen leben, erzählt von und mit Bruchstücken, mutet uns Erzählungen zu, die nicht sofort in Schubladen passt. Wir tauchen ein in die Provinz, eine Landschaft und Lebensform, die ihre Würde bewahren darf, weil sie hier einmal nicht denunziert wird als Stube voller Käuze, als komische Zone oder verlogene Antithese zur Stadt. Lars Eidinger als Thomas und Claudia Michelsen als Kerstin spielen ein Paar, das keines ist, das zusammenfindet ohne geschäumte Gefühle und dramatische Klippen. Das Leben ist spröde, zerkaut sie, macht sie klein und grau und groß in ihrer stillen Not.

Sehr behutsam nähert sich dieser Film seinen Menschen und entwindet sie dem konventionellen Zugriff. Kerstin ist allein und doch nicht. Ihr Mann ging, der Sohn blieb, auch die Mutter, die an Demenz erkrankt ist. Was bleibt? Sorge, Pflege, Sehnsucht? Thomas ist allein und doch nicht. Aus der großen Stadt geflohen, gescheitert, hier auf einen Lehrerposten geflüchtet. Sucht Körpertrost, Sex, suhlt sich in Zweifel und Zynismus. Was bedeutet ein Kuss zwischen diesen beiden, ein Kuss, sieben Jahre alt, damals beim Grenzgang?

Der Film lotet dieses Spannungsgebiet aus, vor und zurück, verknüpft gekonnt Gegenwart und Erinnertes. Die Regisseurin stellt die Bilder gleichberechtigt neben die Sätze, und das Drehbuch ermöglicht uns, die inneren Bewegungen und Bedenklichkeiten der „Helden“ mitzuerleben. Das sind „Helden“ jenseits der Komfortzone, das sind „Helden“ ohne Heldenabzeichen, das sind Helden wie wir, also keine. Wir sehen uns an, tasten uns ins undurchdringlich Gesponnene.
Die große Kraft und Kunst dieses Films liegt in seiner Behutsamkeit und Zärtlichkeit, mit der er unbeirrt seine Geschichte verfolgt, ohne sie an allzu geglückte Wendungen oder melodramatische Katastrophen zu verkaufen. Thomas und Kerstin sind keine Kompromissformeln auf zwei Beinen. Sie leben. Sie hatten Glück mit den Schauspielern, die ihnen Atem schenkten, mit der Regisseurin, die ihnen diffuses Fühlen erlaubte, und mit einer Geschichte, die uns Geborgenheit jenseits des süßlichen Trostes gewährt.

Eine mörderische Entscheidung

Danach war für alle offensichtlich, was zuvor nur immer dunkel mitschwang: Deutsche Soldaten und Offiziere waren wieder im Krieg. Das Bombardement von zwei Tanklastern am Kundus-Fluss im September 2009, bei dem 142 Menschen ums Leben kamen, war die Wende in der Diskussion um den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Denn es war die blutigste Militäraktion deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg, zugleich war es die wohl umstrittenste Entscheidung innerhalb dieses ohnehin umstrittenen Einsatzes.

Das Dokudrama „Eine mörderische Entscheidung“, das so viel differenzierter ist als sein Titel, meistert eine Herkulesaufgabe. Es zeigt ein genau recherchiertes Protokoll einer wahren Geschichte, lässt Angehörige, Beteiligte und Experten zu Wort kommen und inszeniert gleichzeitig ein weites Tableau an Figuren und Perspektiven, das sich schließlich auf die entscheidenden Stunden in der Kommandozentrale der Spezialkräfte verdichtet. Dort trifft Oberst Klein, den Matthias Brandt als zögerlichen und fast unbeteiligten Bürger in Uniform spielt, spät nachts die Entscheidung, dass die zwei angeforderten US-amerikanischen Nato-Flugzeuge die Tanklaster und die dort befindlichen Menschen mit zwei 500-Pfund-Bomben beschießen sollen. Die Kommunikation mit den beiden Bomberpiloten, die immer wieder nachfragen, ob man nicht zuerst durch einen Tiefflug eine Drohung signalisieren solle und ob sich dort unten nicht auch Zivilisten befänden, gehören zu den verstörendsten Szenen. Dabei gelingt es, die Schritte zu der Entscheidung überzeugend zu schildern und gleichzeitig die Brüchigkeit und Unübersichtlichkeit der Situation deutlich zu machen.

Der Film überzeugt sowohl auf einer emotionalen als auch einer rationalen Ebene. Durch das Auffächern der Vorgeschichte dieses Krieges, der noch keiner sein darf, entsteht ein Kontext, der die Beweggründe erhellt. So wird etwa der Todesfall des jungen Deutsch-Russen Sergej Motz kurz zuvor bei einer Patrouille erzählt. Erstmals seit 1945 kam mit ihm ein Soldat in deutscher Uniform bei einem Gefecht ums Leben. Dennoch galten die Deutschen dort lange als Weicheier, die es sich in „Bad Kundus“ gemütlich gemacht hätten.

Die Argumente werden klug und ohne Schaum vor dem Mund vorgetragen. Dokumentarische und szenische Elemente ergänzen sich, aber hinterfragen sich auch. Neben der innenpolitischen Diskussion, die immerhin einen Ministerrücktritt nach sich zog, richten die Filmemacher ihr Augenmerk auch noch einmal auf die Schicksale der Opfer. So dass bei aller Vielschichtigkeit und Ambivalenz am Schluss der Wahnsinn und die Absurdität des Krieges im Mittelpunkt stehen.