Gerechtigkeit ist ein komplizierter, schwer definierbarer, moralisch aufgeladener Begriff. Was die einen als gerecht ansehen, empfinden andere als schreiendes Unrecht – dafür reicht bereits ein kurzer Spaziergang entlang verhärteter Fronten im Flüchtlingsstreit oder ein kleiner Haushaltsdisput zwischen FDP und Grünen. Wenn die ARD zur jährlichen "Themenwoche" lädt und "Gerechtigkeit" drüberschreibt, steht daher weit mehr noch als bei der Premiere dieses Schwerpunktformats zum Thema Krebs vor zwölf Jahren unweigerlich die Frage im Raum: was genau ist das eigentlich – Gerechtigkeit? Und Caren Miosga reicht sie gleich mal weiter.

Kaum hat NDR-Intendant Lutz Marmor bei der wuchtigen Präsentation der Themenwoche nämlich erklärt, worum es sieben Tage lang unter Federführung seiner Funkanstalt geht; kaum war sein kluger Satz, Gerechtigkeit sei ein Grundbedürfnis, nach dem der Mensch auch für andere strebt, im voll besetzten Sitzungssaal verklungen; kaum sollte es ans Inhaltliche von fast 150 Sendungen auf allen Kanälen gehen, da hakt die willensstarke Moderatorin nach, warum bei so viel kollektivem Gerechtigkeitsempfinden der ARD denn bitte drei Fernsehdirektoren auf dem Podium säßen, "aber keine Frau in führender Position".

Wumms!

Ihr Vorgesetzter erzählt dann zwar etwas von "Bemühen" oder "Besserung" und ungefähr "38 Prozent Frauen in leitender Funktion", die beides langsam bezeugen. Aber der forsche Einwand von berufener Stelle zeigt deutlich, dass die 13. ARD-Themenwoche in knapp zwei Monaten gewiss nicht die leichteste wird. Und das ist angesichts der vorherigen Inhaltsstoffe von Glauben, Heimat, Arbeit über Differenz und Glück bis hin zu Tod oder Mobilität ja schon mal der Rede wert.

Es wird also nicht nur vielschichtig, sondern auch streitbar, wenn die neun Sendeanstalten der ARD ab 11. November fast rund um die Uhr auf nahezu jeder Plattform über Gerechtigkeit in diesem Land und aller Welt diskutieren, vor allem aber informieren. Und dabei, das hat Lutz Marmor bereits vor der Pressekonferenz im Interview versichert, will die Themenwoche "keine höhere Wahrheit anbieten, sondern eine Diskussionsplattform". Oder wie es die Leiterin der Innenpolitik des NDR, "Panorama"-Moderatorin Anja Reschke gegenüber DWDL.de äußert: "Weil Gerechtigkeit immer auch im Auge des Betrachters liegt, ist das Ziel der Themenwoche nicht, eine Haltung dazu zu entwickeln, sondern den Diskurs darüber zu fördern, was gerecht ist und was ungerecht."

Laut einer Umfrage von Infratest dimap fühlen sich Ostdeutsche schließlich schlechter behandelt als Westdeutsche, Frauen stärker als Männer, Arme mehr als Reiche und Ungebildete mehr als Akademiker. Aber dass sich nur 51 Prozent der Bevölkerung eines der wohlhabendsten, funktionsfähigsten, rechtstaatlichtsten Ländern der Erde gerecht behandelt fühlen, zeigt die Dringlichkeit dieser Themenwoche. Und ihren Bedarf, alle Winkel der Problematik auszuleuchten.

Der SWR-Report "Ausgebeutet für den Online-Boom" begleitet am Mittwoch daher zur allerbesten Sendezeit Paketausfahrer bei ihrer Arbeit für den enthemmten Konsum, während Alwara Höfels, Gitta Schweighöfer und Katharina Maria Schubert als Darstellerinnen des ARD-Films "Keiner schiebt uns weg" zeitgleich in die polyesterbunten, aber schreiend geschlechterungerechten Siebzigerjahre zurückgeschickt werden. Im Rostocker "Polizeiruf" namens "Für Janina" kriegen es Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner zum Auftakt am 11. November mit den Folgen eines Justizirrtums zu tun, nachdem NDR Info am selben Tag um 11 Uhr morgens das Klassentreffen einer früheren Förderschule besucht hat. Der BR-Beitrag "Superfrauen" beleuchtet kurz vor Mitternacht "die weibliche Seite des Deutschen Films", die NDR-Doku "Ausgetrickst" tags drauf Ungerechtigkeiten bei Miete, Einkommen und Rente.

Globalisierung wird ebenso kritisch unter die Lupe genommen wie Obdachlosigkeit, die Bildungsmisere rückt gleichermaßen ins Licht wie Fairer Handel, Steuergerechtigkeit oder Umweltschutz. Und wenn sich selbst die seichte ARD-Soap "Rote Rosen" in der Themenwoche kritisch positioniert und das Publikum erstmals über den Ausgang einer Folge "Großstadtrevier" abstimmen darf, zeigt sich der unermessliche Umfang eines Begriffes, den Kleinkinder im Sandkasten ja kaum weniger eifrig ausdiskutieren als Rentner im Altenheim, von jeder Alterskohorte aller sozialen Schichten dazwischen ganz zu schweigen.

Viele darin, das belegt die Umfrage im ARD-Auftrag, teilen, was "Polizeiruf"-Star Charly Hübner vor der Pressekonferenz betont: "Ich persönlich empfinde mich als total gerecht behandelt", gesellschaftlich allerdings hapere es trotz guten Willens vieler Institutionen "doch sehr an der Umsetzung – ganz egal ob bei Tarifen, Armut, Justiz, Gleichstellung oder der Wirtschaft". Genau darin jedoch liegt ja die Chance solch eines Schwerpunktes in Fernsehen, Radio, Internet: alle Facetten dessen ins Auge zu fassen, was alle tagtäglich betrifft, ohne den Zeigefinger zu heben.

Und wenn alle daraus gelernt haben, sitzen auf dem Podium der Themenwoche 2019 vielleicht auch nicht nur Programmdirektoren auf dem Podium, sondern ein paar gleichrangige Frauen. Gerechter wär’s…