"Perspektivisch soll Bild Live nicht aussehen, wie diese 9-, 12- und 18 Uhr-Sendungen aussahen. Das waren Trainings und Transformationsübungen", sagt Julian Reichelt, Chefredakteur von "Bild", im Gespräch mit DWDL.de über die ersten Gehversuche von Bild Live, dem stundenweise live gestreamten Programm aus News, Kommentierung und Talk. Was soll es stattdessen werden? "Wir wollen durchgehend Geschichten erzählen, immer verbunden mit Kapazität für Breaking-News-Situationen, aber das zu bauen, ist schwierig, weil es das so nie gab."

Zu sagen, was Bild Live nicht sein soll, fällt Reichelt leichter: "Wir sind nicht 'Top-of-the-hour'-News", sagt er und tut sich deshalb auch schwer mit dem Begriff des Nachrichtensender, der aus seiner Sicht nicht den Kern des Projekts erfasst. "'Bild' ist ja auch keine Nachrichtenzeitung. Wir erzählen Geschichten; die Geschichten, die das Land bewegen und Menschen am dringlichsten betreffen, in einer sehr emotionalisierten Weise. Das wollen wir übersetzen in ein am Ende einmal durchgehendes Programm." Der Weg dorthin ist eines der Themen der Amazon-Doku "Bild. Macht. Deutschland?", die am Freitag erscheint.

Julian Reichelt © Axel Springer Bild-Chefredakteur Julian Reichelt
Jene Emotionalisierung von Journalismus ist schon länger ein roter Faden in vielen Äußerungen des "Bild"-Chefredakteurs. Mit der bewussten Unterscheidung von klassischerweise durchgetakteten und auf die volle Stunde ausgerichteten Nachrichtensendern geht Bild Live damit einer direkten Konkurrenzsituation mit den Springer-eigenen Kolleginnen und Kollegen von Welt aus dem Weg - und greift doch an, wenn er sagt: "Wir konkurrieren nicht mit anderen Nachrichtensendern darum, wer die dpa-Eilmeldung zuerst ins Laufband stellt. Unser Anspruch ist, diese News zu generieren."

Über seine Vision für Bild Live sagt Julian Reichelt: "Ich sehe zwei Säulen für unser Programm, die Double-O-Strategie wie ich sie nenne: Ongoing und Opinion." Dass Bild Live mit meinungsstarker Kommentierung auf den Spuren von Fox News wandelt, weist Reichelt zurück. "Es wäre eine gewaltige Fehleinschätzung. Das Geheimnis der Marke „Bild“, der Erfolg und das Wachstum, ist nicht möglich geworden durch Spaltung, sondern durch Besinnung auf das, was uns eint. Auf Fox News kann sich nur die Hälfte des Landes einigen, wir haben den Anspruch alle zu erreichen." 

Einigen statt spalten - man kann es eine sehr exklusive Sicht auf die eigene Berichterstattung nennen. Unklar war bislang auch, ob Bild Live überhaupt Ambitionen hat mehr zu werden als das, was gerade schon täglich auf Sendung gebracht wird. Vermeintliche Einsparungen wurden zuletzt berichtet und sogleich energisch dementiert. Für "Bild"-Chefredakteur Reichelt ist das Projekt von einer strategischen aber auch sentimental enorm großen Bedeutung, erklärt er im Gespräch mit dem Medienmagazin DWDL.de. 

"'Bild' wurde ja von Axel Springer als gedruckte Antwort auf das Fernsehen konzipiert. Wir nutzen jetzt neue Technologien, um das, was Axel Springer nicht machen konnte - weil es keine Lizenz gab -, konsequent weiter zu denken. Wir sind kein Sender, der die Nachrichten präsentiert, sondern ein Sender, der die Geschichten, die dieses Land bewegen, menschlich und emotional zu erzählen, wie es „Bild“ immer schon getan hat." Reichelts audiovisuelles Abenteuer als Vollendung dessen, was dem Gründer des Hauses ohne Rundfunklizenz einst verwehrt blieb. Da mangelt es nicht an Pathos. 

Bild. Macht. Deutschland? © Michaelis/Prime Video "Die richtigen Fragen": Eines der Formate von Bild Live

Gleichzeitig aber sieht Reichelt sich derzeit noch als Underdog im Bewegtbild-Geschäft und kann daraus einen Nutzen ableiten: "Diese Underdog-Rolle, die wir im Bewegtbild haben, tut uns allen gut. Sie holt uns raus aus einer Routine, in der wir und viele Teile der Medienlandschaft stecken und die dazu verführt zu glauben, man wisse ja, wie alles funktioniert und sei der Größte."

Aber wohin soll es nun gehen? "Mein Anspruch ist es, dass wir perspektivisch - weil es kein besseres Wort gibt - als Sender wahrgenommen werden. Aber wo diese Wahrnehmung stattfindet, können wir alle noch nicht sagen. Da denken wir als Start-Up innerhalb von 'Bild' plattformagnostisch. Wir wollen wie immer mit der Marke 'Bild' da hin, wo die Menschen sind, und auch auf die großen Bildschirme, wie auch immer das technisch passiert - via OTT-App, via einprogrammiertem Sender oder via Spiegelung vom Smartphone. Das treibt mich nicht um, das wird der Wandel der Mediennutzung zeigen. Mir geht es darum: Wann immer etwas passiert, ist Bild live."

Die Monetarisierung des Bewegbild-Abenteuers von "Bild" gibt allerdings den möglicherweise entscheidenen Aufschluss: Lang laufende Online-Streams ohne weitere Werbeunterbrechung machen die Refinanzierung schwierig. Sei es nicht lukrativer an TV-Werbegelder zu kommen? "Die Perspektive, die Sie aufzeigen, ist richtig, um Erlöse zu generieren, die 'Bild' angemessen sind."

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