Es passiert selten bis nie, dass eine in Deutschland produzierte Doku-Serie die englischsprachigen Netflix-Charts stürmt. Mit „Der Fall Jens Söring – Tödliche Leidenschaft“ ist das im vorigen Herbst geglückt. Die reale Story des deutschen Doppelmörders, der nach 30 Jahren im US-Gefängnis Medienkarriere als Justizopfer macht, landete auf Anhieb auf Platz 2. Für die Non-Fiction-Chefin bei Netflix in Berlin, Wiebke Schodder, war das eine schöne Vergewisserung, dass sich ihre Investitionen in dieses Genre lohnen: True Crime sei sehr „reisefreudig“, sagte sie hier auf DWDL.de.

Übersetzt heißt das: Tod streamt gut und zwar weltweit.

Wer wüsste das besser als Joe Berlinger?

Vom US-amerikanischen Dokumentarfilmer kommt am 3. April bei Netflix „Crime Scene Berlin: Nightlife Killer“ heraus. Den Dreiteiler über einen Serienmörder, der die deutsche Party-Hauptstadt 2012 in Schrecken versetzte, weil er seine Opfer mit K.O.-Tropfen betäubte und meuchelte, hat Berlinger gemeinsam mit Beetz Brothers für den Streamer produziert. Er wagt sich mit diesem German Original erstmals auf den hiesigen Markt. Das Wagnis dürfte indes überschaubar sein auf allen Seiten.

Joe Berlinger ist einer der versiertesten und erfolgreichsten True-Crime-Filmer. Im Katalog von Netflix finden sich Hits wie „Ted Bundy: Selbstporträt eines Serienmörders“, „Jeffrey Epstein: Stinkreich“, „Jeffrey Dahmer: Selbstporträt eines Serienmörders“, „Crime Scene: Tatort Times Square“ und etliche mehr. Berlinger hat’s eben raus, wie man (sich) mit Tod amüsiert, seit er mit seinem Debüt „Brother’s Keeper“ über einen vermeintlichen Brudermord auf Robert Redfords Sundance Festival 1992 reüssierte. Er gewann in der Folge mehrere Emmys und 2012 beinahe einen Oscar für einen Film aus der Todeszelle in Arkansas.

Joe Berlinger © Henry Garfunkel
Was muss das für ein Mensch sein, der schon sein halbes Leben eine Leidenschaft für das Tödliche pflegt? Der in seinen Filmen immer wieder in menschliche Abgründe schaut – und auch immer wieder den Vorwurf aushalten muss, er hebe Kriminelle auf ein Podest?

Auf den ersten Blick ist Joe Berlinger: ein etwas grimmig dreinblickender Mensch. Aber daran trägt die Interviewerin Schuld. Oh Boy, sie hat sich von der Frühlingssonne blenden lassen und den Beginn des Termins verschwitzt. Im Zoom-Room wartet ein halbes Dutzend Köpfe auf sie. Bei der Hauptperson startet gerade der Tag.

Wie ist der Frühling in New York, Joe? It’s very nice, the sun is out finally. Doch genug mit dem angestrengt höflichen Wetterwortwechsel. Time is running.

Zweiundsechzig ist Joe Berlinger am Tag vor Halloween geworden. Und wenn Wikipedia nicht lügt, muss er hervorragend Deutsch sprechen. Geht aber so. I can speak German, but it’s probably easier in English. Okay, ist ja auch lange her, dass er Germanistik am US-College studierte. Wieso eigentlich?

To be honest with you, als amerikanischer Jude sei er besessen gewesen vom Holocaust. „Ich wollte wirklich wissen, wie es dazu kommen konnte.“ Berlinger lernte also Deutsch, um das Tätervolk und seine Kultur besser zu verstehen. Noch ohne Schimmer, mit was er nach dem Abschluss seinen Lebensunterhalt verdienen will, nutzte er 1985 die Chance, eine Zeitlang in Deutschland zu leben. Im Frankfurter Büro der New Yorker Werbeagentur Ogilvy & Mather konnte er seine Sprachkenntnisse anbringen. Er jobbte als junior guy, „sehr niedrig“, wie er auf Deutsch erklärt. Als er zum ersten Mal ans Set für einen Werbespot kam, die Kameras, das Licht, das ganze Drumherum, da war es um ihn geschehen.

Mit dieser „deutschen Verbindung“ in seinem Leben, die ihn „auf interessante Weise dazu gebracht hat, Filmemacher zu werden“, kokettiert Berlinger gern, erst recht im Gespräch mit einer deutschen Journalistin. Thank God, seine Laune bessert sich, er wird gesprächig.

Zurück in den USA drehte Berlinger zunächst Commercials fürs Fernsehen und behielt das auch die nächsten zehn Jahre bei, denn mit Dokumentarfilm war in den späten 1980ern, frühen 1990ern keine Familie zu ernähren. Der Kabelkanal HBO und PBS, das US-Pendant zu ARD und ZDF, waren die einzigen Käufer von Dokumentationen. Berlingers Erstling „Brother’s Keeper“ heimste zwar jede Menge Preise ein, trieb ihn aber fast in den Bankrott. Entmutigen ließ er sich nicht.

Mit Bruce Sinofsky, dem kongenialen Wegbegleiter seit „Brother’s Keeper“ (und 2015 viel zu früh verstorben), schloss sich Berlinger einer kleinen Gruppe gleichgesinnter Indie-Filmer an, die sich aufmachten, „die Definition des Begriffs Dokumentarfilm zu erweitern“, wie er es formuliert. Erol Morris mit „The Thin Blue Line“, Michael Moore mit „Roger & Me“, Steve James mit „Hoop Dreams“ – sie alle hätten Dokumentarfilme mehr zum Mainstream machen wollen. Sie sollten einen gewissen Unterhaltungswert haben, auch wenn sie ein ernstes Thema behandeln. Es funktionierte.

Mitte der 1990er Jahre war es keine Seltenheit mehr, Dokumentarfilme in die Kinos zu bringen. Auf Zelluloid in Dosen wurden sie an die Filmtheater verschickt (wer vom alten, historischen Krempel was haben will: Joe Berlinger hat ausgemistet). Als dann Anfang der 2000er Jahre das Reality-TV aufkam, was Berlinger für „eine schlechte Sache“ hält, aber den Appetit des Publikums auf echtes Leben steigerte, wurde aus der Kunst ein einträgliches Geschäft – und ein global business mit dem Markteintritt von Netflix. Schaute im Kabelfernsehen vielleicht eine Million Menschen Berlingers Dokus, waren es beim Streamer millions and millions of people around the world.

Die perfekte dramatische Struktur

Nun ist es nicht so, dass Berlinger am laufenden Band nur True Crime produzieren würde. Filme machte er schon über die Band Metallica, den Wellenreiter Robby Nash und den Motivationscoach Tony Robbins. Aber die größten Erfolge hatte und hat er mit wahren Geschichten über Mord und Totschlag. Die „Serienkiller-Phase“ in seiner Karriere geht jetzt schon länger als von ihm gedacht. Er werde halt dauernd nach neuem Stoff gefragt, da falle es ihm schwer, nein zu sagen, sagt er fast schon entschuldigend.

Abgesehen davon, dass ihn Verbrechen als Geschichtenerzähler reizen, weil sie eine „perfekte dramatische Struktur“ haben – es passiert etwas, Gerechtigkeit wird gesucht, am Ende kommt die Auflösung – sieht Berlinger in True-Crime-Formaten die Möglichkeit, den Scheinwerfer auf systemische Probleme im Strafrecht zu werfen, denn davon gebe es viele in seinem Land. Er frage sich immer: „Welchen Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit kann ich leisten, indem ich diese Geschichte erzähle? Fällt mir keiner ein, erzähle ich sie nicht.“

Sieben irrtümlich verurteilte Männer habe er schon mit seinen Filmen aus dem Gefängnis geholt, erzählt Berlinger stolz. Darunter waren die so genannten West Memphis Three, denen er die Trilogie „Paradise Lost“ widmete. Mehr als 18 Jahre saßen sie unschuldig ein, wie sich später herausstellte. Für Teil 3 waren er und Sinofsky für den Oscar nominiert.

By the way, was hat‘s gebracht? „Nix“, antwortet Berlinger auf Deutsch und fährt dann in seiner Muttersprache fort, die Leute würden denken, Academy Award nominated director sei ein big deal, auf persönlicher Ebene auf jeden Fall. „Aber rein praktisch hat es nichts für meine Karriere gebracht.“ Trotzdem zählt er den Moment, als er mit den West Memphis Three über den Roten Teppich ging, zum „wirklich schönsten“ in seinem Leben. Im beruflichen Leben, korrigiert er, denn natürlich war das private Highlight, seine Frau zu heiraten (Loren Eiferman arbeitete als Producerin für ihn und wurde noch während der Dreharbeiten von „Brother’s Keeper“ seine Frau) und Kinder zu bekommen.

Dass Joe Berlinger sein Augenmerk aber auch jenen widmet, die tatsächlich Bestialisches verbrochen haben und zurecht ihre Strafe verdienen, wurde wiederholt kritisiert. Glorifiziert er die Täter und verhöhnt die Opfer, wie ihm die Kritiker vorwerfen?

Er holt in seiner Antwort weit aus, geht zurück an jenen Thanksgiving Abend, als er seinen Töchtern eröffnete, dass er einen Film über Ted Bundy machen wolle. Obwohl beide very smart young women seien und die besten Schulen des Landes besuchten, hätten sie noch nie von einem der grausamsten Mörder Amerikas gehört. Für den Vater war das Ansporn, die Story aufzuarbeiten. Bundy hatte mehr als 30 Morde und brutalste Vergewaltigungen begangen. Erst kurz vor seiner Hinrichtung 1989 begann dieser zu sprechen und hinterließ mehr als 100 Stunden Tonmaterial, das Berlinger 2019 in den Vierteiler mit dem Originaltitel „Conversations with a Killer: The Ted Bundy Tapes“ einarbeitete. Ähnlich ging er auch bei der Jeffrey-Dahmer-Story vor.

Joe Berlinger © Henry Garfunkel
Er sei sehr stolz auf diese Sendungen, sagt Berlinger, weil er denke, dass er damit die Botschaft an die Welt hinausgeschickt habe: „Seid vorsichtig, wem ihr vertraut. Nur weil jemand gut aussieht, charmant und weiß ist, heißt das nicht, dass man ihm vertrauen sollte. Ist das eine Romantisierung des Serienmörders? Nein“, gibt sich Berlinger selbst die Antwort, er zeige ihn als dreidimensionales menschliches Wesen.

„Wir geben uns der Illusion hin, dass Serienmörder sich rund um die Uhr wie Serienmörder verhalten, dass ihnen die ganze Zeit das Blut aus dem Mund tropft und wir ihnen deshalb als Opfer entkommen. Die Wahrheit ist, dass die Menschen, die in der Welt Böses tun, die Menschen sind, von denen man es am wenigsten erwartet und denen man am häufigsten vertraut.“

Bundy oder auch Dahmer waren längst tot, als sich Joe Berlinger ihrer annahm. Mit einem noch lebenden Verbrecher Interviews zu führen (was hierzulande zum Beispiel im Fall Niels Högel scharf kritisiert wurde), darin sieht er grundsätzlich kein Problem, „solange es verantwortungsbewusst geschieht und den Opfern kein zusätzliches Leid zugefügt wird“. Als er zum Beispiel die Ted-Bundy-Story mit Zac Effron in der Hauptrolle fiktionalisierte, fielen die Leute über ihn her, er sei respektlos gegenüber den Opfern. Guess what, deren Angehörige, die Regisseur Berlinger ans Set einlud und um ihre Meinung bat, hätten genau das Gegenteil gesagt. Es sei eine slippery slope, also heikel, Filmemachern vorzuschreiben, wie sie was zu erzählen haben, findet er.

Dementsprechend nahm er sich jetzt die Freiheit, den „Nightlife Killer“ von Berlin auf seine Art und Weise zu sezieren.

Dirk P. ging als „Koma-Killer“ in die Schlagzeilen ein. Doch Berlinger will nicht einfach seine Morde in der schwulen Szene Berlins nacherzählen. „Es geht auch darum, darüber zu sprechen, wie ein Ort und wie die sozialen Werte einer Gemeinschaft zu einem Verbrechen beitragen.“ Das war auch sein Ansatz in drei vorherigen Netflix-Dokus über das Cecil Hotel in Los Angeles, den Times Square in New York oder die sogenannten Texas Killing Fields. Allesamt seien extrem erfolgreich gewesen. Da lag es nahe, den Radius USA auszuweiten.

Warum Deutschland? Na, weil Netflix Deutschland als erstes die Hand hob, lacht Berlinger. Was die Sache außerdem besonders aufregend für ihn mache: Er können wieder in Deutschland arbeiten. Die „Faszination und Liebe für deutsche Kultur“ halte bei ihm noch immer an. Berlin, eine seiner Lieblingsstädte! Er war dort das letzte Mal im vorigen Mai, um mit Georg Tschurtschenthaler und den anderen Beetz Brothers ein Schnitzel zu essen, was . . .

Last question, schneidet da die PR-Dame dazwischen, verdammt, die Verspätung hat Zeit gekostet.

Auf dem Fragenzettel steht noch Donald Trump. In seiner Jeffrey-Epstein-Doku zog Joe Berlinger ein paar interessante Verknüpfungen. Trump könnte sein nächster Präsident . . . „Ich ziehe mich um nach Berlin, is that the right word?“, unterbricht Berlinger. Fast. Aber wäre Trump nicht interessant für eine True-Crime-Doku? Bei seinem langen Strafregister, das in seiner ganzen Länge ja noch gar nicht erfasst ist?

„Wissen Sie“, lautet Berlingers letzte Antwort, „ich könnte es nicht ertragen.“ Wenn Trump im Fernsehen redet, schalte er sofort um. Es dauere zwei Jahre, einen Film zu machen. „Ich möchte nicht zwei Jahre lang mit Donald Trump leben.“

Man kann das gut verstehen.

"Crime Scene Berlin: Nightlife Killer", ab dem 3. April bei Netflix