Es gibt Zeitgenossen, die sprechen Snooker im Fernsehen eine ähnlich kontemplative Wirkung zu wie Bahnfahrten durch Rheinland-Pfalz oder Elchwanderungen über den Fluss Ångermanälven in Nordschweden. Entspannung, Spannung, Drama, alles dabei, bis der letzte Ball im Loch auf dem grünen Kammgarntuch verschwindet, und das kann dauern, aber hallo. Nur dass man beim Zuschauen nicht allein gelassen wird. Im Off begleitet einen die fachkundige Stimme von Rolf Kalb.
Kalb ist der führende Snookologe im TV. Er hat viel dazu beigetragen, dass Zuschauer zu Fans wurden, weil sie beim Zappen unerwartet auf Menschen stießen, die keine kurzen Hosen tragen, sondern Fliegen.
Jetzt hört er auf. Snooker ohne Rolf Kalb?
Die Snooker-Szene ist entsetzt und trauert (bitte nachlesen auf X unter #DankeRolf). Und stellt sich zurecht die Frage: Wie soll das weitergehen? Mit diesem Sport, auch mit Snooker bei Eurosport?
Auf dem zur Discovery-Gruppe gehörenden Free-TV-Sender ist diese Variante des Billard-Spiels eine der Top-Programmsäulen. In diesen Tagen wird noch bis zum 6. Mai die WM in Sheffield ausgetragen. Es ist der Höhepunkt der Snooker-Saison und zugleich Rolf Kalbs letzter Einsatz nach insgesamt 35 Jahren bei Eurosport.
Dort haben sie zurückgeschaut: Seit 2003 habe Kalb keine WM, kein Snooker-Event verpasst. Nie fiel er aus. Selbst in der Phase, als seine Frau schwer erkrankte, war er spätestens zur Abendsession wieder am Mikrofon, zuhause in Gütersloh wohlgemerkt. Denn egal ob Turnier in China, in Saudi-Arabien oder Großbritannien, der Snooker-Kommentar zum World Feed ist auf dem Münchner Kanal „Made in Gütersloh“.
Arbeitszimmer unterm Dach
Dass Rolf Kalb aus dem Arbeitszimmer unterm Dach kommentiert und nicht wie ganz früher am Senderhauptsitz in Paris, hat sich „für alle Seiten als verlässlich und qualitativ hochwertig etabliert“, heißt es aus dem „Home of Snooker“ (Eurosport-Claim). Und günstiger für den Sender ist es obendrein ja auch.
Abgesehen davon: In Sheffield hätten sie schlicht und ergreifend keinen Platz für ihn, wie der Kommentator in die Zoom-Kamera erklärt. „Das Crucible Theatre ist viel zu klein. Es passen insgesamt nur 980 Zuschauer hinein und auch nur zwei Billardtische mit je einer Kommentatorenkabine. Die beanspruchen natürlich die Kollegen der BBC als Host Broadcaster für sich.“ Ein „Anachronismus“ sei das, findet Kalb. „In Berlin kriegen wir die Hütte mit 2500 Zuschauern voll.“
Man erfährt zum Beispiel, dass dieser vornehme Ball-Sport im 19. Jahrhundert von britischen Offizieren erfunden wurde und nirgends so intensiv gepflegt wird wie im Mutterland. Man bekommt die Erklärung dafür, warum die Briten nicht nur wie verrückt Snooker spielen, sondern Snooker auch wie verrückt im TV gucken, was fernsehindustriepolitische Gründe hat: Snooker war perfekt, um die Schwarzweißfernseher in den 1960ern zum Umstieg auf Farbfernseher zu bewegen. Wer die Farben der Kugeln nicht unterscheiden kann, hat nichts von diesem Spiel.
Das legendäre WM-Finale von 1985 ist bis heute die Sendung mit der höchsten Live-Zuschauerzahl auf BBC Two, 18,5 Millionen schauten zu, und es heißt, dass Steve Davis, der damals gegen Dennis Taylor knapp unterlag, in den Achtzigern öfter im BBC-Programm zu sehen war als Premierministerin Margret Thatcher.
Keine Sorge, Olaf Scholz wird das hierzulande nicht passieren.
Snooker in Deutschland ist ein Nischensport und ein Nischenprogramm. Gegen König Fußball kommt auch ein Rolf Kalb nicht an. Allerdings, sagt die Kommentatorengröße nicht ohne leisen Stolz: „Es ist die erste nicht-olympische Sportart, die hierzulande die eine Million-Zuschauer-Marke geknackt hat.“ (Zahlenfetischisten sei nachgereicht: Die TV-Quoten Snooker Top 10 beim deutschen Eurosport führt das WM-Finale von 2008 an mit im Schnitt 700.000 Zuschauern bei 2,3 Prozent Marktanteil.)
Ein großer Fisch in einem kleinen Teich
Man kann das durchaus als Erfolg werten. Denn anders als im Mutterland des Sports stößt kein einziger Deutscher die Kugel in der Weltranglistenspitze. Es fehlen Stars wie Ronnie „The Rocket“ O’Sullivan und „Wizard“ John Higgins, die Fans mitreißen. Oder wie es Kalb in seiner bildmalerischen Sprache ausführt: „Wer in Deutschland im Snooker erfolgreich ist, ist ein großer Fisch in einem relativ kleinen Teich. Schwimmt der Fisch in internationale Gewässer, stellt er fest, dass die Fische dort viel größer und gefräßiger sind.“
Was die Snooker-„Fische“ aber weltweit eint: Sie und ebenso ihr muxmäuschenstilles Publikum im Saal wissen sich unglaublich gut zu benehmen. Rüpelhaftes Auftreten wie bei den Balltretern auf dem Rasen ist ein No-Go. Wer gegen den Ehrenkodex verstößt, ist ein Ausgestoßener. Auch Schweißperlen sucht man bei diesem Sport vergebens. Ist das langweilig? Aber nein!
Für Rolf Kalb ist Snooker „das ultimative Duell“. Wenn eine Fußballmannschaft fünf Minuten vor Schluss vier zu null führt, sei es unwahrscheinlich, dass sich da noch was am Endergebnis dreht. Beim Snooker kommen solche unwahrscheinlichen Wendungen vor. Er hat’s erlebt, 1991 bei einem Masters Final.
Mike Hallett führte gegen Stephen Hendry, den damaligen Überflieger, mit acht zu eins. Siegesgewiss ging Hallett vor dem entscheidenden neunten Frame auf die Toilette, dummerweise nicht auf die der Spieler, sondern eine öffentliche. Dort stand jemand neben ihm und sagte, du, pass auf, dass du das Spiel nicht noch aus der Hand gibst. So pflanzte er Hallett den Gedanken in den Hinterkopf, dass er bis hierhin noch nichts gewonnen hatte. Und prompt verlor er das Match.
Psychologische Kriegsführung am Urinal – interessant, dieses Snooker.
Eine Story für sich ist auch, wie Rolf Kalb überhaupt zu diesem Sport kam. Denn dort, wo er aufwuchs, am Niederrhein, als Sohn eines viel zu früh verstorbenen Bergmanns, war natürlich ein anderer Sport groß: Fußball.
Kalbs fünf Jahre älterer Bruder Rainer ist Fußballjournalist geworden. Auch Rolf, der Jüngere, fuhr mit 15 auf dem Fahrrad über die Dörfer, um für die Lokalzeitung über Fußball zu berichten. Irgendwann trafen sie eine Abmachung: Der Rainer macht Fußball und sonst nichts. Und der Rolf macht alles andere, nur kein Fußball. So ging der familieninterne Scherz. Die Großmutter war gar nicht begeistert.
Kalb weiß noch, wie fassungslos die „Omma“ war: Erst Rainer, von dem sie gehofft hatte, er würde Lehrer werden, und dann ging auch noch Rolf zum Sportjournalismus. Jungs, fragte sie ungläubig, glaubt ihr denn, dass man davon eine Familie ernähren kann? Nun könne er sagen: „Omma, es hat geklappt.“
Wobei: Für einen eigenen Billardtisch scheint es dann doch nicht zu reichen. Um sich um so einen Tisch herum noch bewegen zu können, braucht man mindestens 5 mal 7 Meter freien Raum. „Tut mir leid“, sagt Rolf Kalb lachend, „so gut verdient man als Eurosport-Kommentator nicht. Ich habe nirgendwo im Haus so viel Platz.“ Über sein eigenes Snooker-Können legt er „den gnädigen Mantel des Schweigens“. Seine Herangehensweise an den Sport sei in erster Linie eine journalistische. „Ich habe den Sport als Journalist kennen gelernt und war sofort begeistert.“
Und das kam so: Die Deutsche Billard-Union in Bonn suchte einen Pressesprecher. Kalb, Student der Mathematik, war jung und brauchte Geld. Er wusste, wie man schreibt. Er war nicht zu teuer. Über diese Verbandsschiene lernte er nicht nur seine spätere Ehefrau kennen und lieben – im nächsten Jahr feiern sie 40. Hochzeitstag, dieser Sport hat offenbar ein ungeheures Bindungspotenzial. So kam auch der Kontakt zu Eurosport zustande.
Als nämlich die Snooker-Welle von der Insel auf den europäischen Kontinent schwappte und Eurosport in Deutschland 1989 eine Redaktion aufbaute, luden sie den damaligen Billard-Pressesprecher als Experten zu sich ein. Rolf Kalb war zu dem Zeitpunkt sehr wahrscheinlich der einzige deutsche Sportjournalist, der damals Snooker fehlerfrei schreiben konnte. Er passte perfekt ins Team. Erstmals live on Air ging Kalb am 11. November 1989, bei einem Rugbyspiel zwischen Frankreich und Australien. Das erste große Highlight seiner Snooker-Karriere erlebte er zwei Jahre später, als er beim World Masters in Birmingham von vor Ort kommentieren durfte.
Rolf hat Snooker
Seither dominiert der Snooker-Kalender Rolf Kalbs ganzes Leben. Familienfeiern, Treffen mit Freunden, Konzertbesuche oder ähnliches? „Rolf hat Snooker“, hieß es, wenn er wieder mal fehlte, es klang beinahe schon wie eine ansteckende Krankheit. Das Gefühl, dass in seinem Leben noch Platz für anderes sein muss, kann man gut nachvollziehen. Mit fast 65 (am 29. September ist es so weit) ist auch mal Zeit für etwas mehr Entspannung, für ein slow down.
Denn dass sein Job kräftezehrend ist, kann man nicht bestreiten. Über Stunden, Tage und Wochen sich auf ein Weltturnier zu konzentrieren, davor und dazwischen Informationen zu beschaffen, Statistiken zu büffeln und dann bis gegen Mitternacht im stillen Kämmerlein live zu performen und parallel die Community auf X über Hashtag #147sf bei Laune zu halten, dafür braucht es Energie.
Als eine Art Elder Statesman hie und da einspringen will er nicht, das habe „keinen Sinn“ und wäre „auch unfair gegenüber den Kollegen“, die die Snooker-Turniere künftig bei Eurosport übertragen. Sollte man ihn aber als Master of Ceremony anfragen, zum Beispiel bei den nächsten German Masters in Berlin, dann wäre er nicht abgeneigt und gerne dabei.
Diese Rolle hat im Snooker eine lange Tradition. Sobald die allerletzte Schwarze eingelocht wurde, ist es die Aufgabe des Zeremonienmeisters, gute Stimmung in der Arena aufkommen zu lassen für die „Presentation Party“ und den Turniersieger zu interviewen. Dass der Kommentator das macht, gab es hierzulande vor Rolf Kalb nicht.
Man stelle sich mal vor, Gerd Gottlob von der ARD-„Sportschau“ oder Wolff Fuss oder wer auch immer aus der Fußballkommentatorenriege bei Sky würde am 25. Mai nach dem Schlusspfiff im DFB-Pokalfinale im Olympiastadion in Berlin aus der Kabine stürzen runter zum Rasen, dem Siegerteam von Bayer Leverkusen (oder glaubt ernsthaft jemand an Kaiserslautern?) das Mikrofon unter die Nase halten und dann an den Platz des Kommentators zurückeilen? Genau diese Doppelrolle übernahm Kalb, wenn in Berlin oder Fürth Snooker gespielt wurde.
Ob auch seinen Nachfolgern diese Ehre zuteilwird, wird sich zeigen. Auch ist noch unklar, für wen sich Eurosport in der Kommentierung entscheidet. Nur so viel: Ein Team soll es sein. Rolf Kalb hat angeboten, diesen Prozess zu begleiten. Denn er möchte „natürlich auch, dass Snooker bei Eurosport weiterhin gut läuft“.
Dass Snooker weiter wichtig bleibt bei Eurosport, davon geht er aus: „Das war nie eine Rolf-Kalb-Show“, betont er in vornehmer Bescheidenheit, „Snooker ist ein faszinierender Sport.“ Außerdem: Der Vertrag mit der World Snooker Tour laufe ja noch bis zur Weltmeisterschaft 2026 einschließlich. Die nächsten zwei Jahre seien also abgedeckt. Kalb ist sich sicher, dass es danach einen neuen Vertrag geben wird: „Snooker braucht Eurosport und Eurosport braucht Snooker.“
Alle, die da mitmischen, sind sich einig: Aus diesem Sport ist noch viel mehr herauszuholen. Auch an Preisgeldern für die Profis. Die Saudis und die Chinesen wollen die Snooker-WM zu sich holen, weg aus Sheffield, weg aus dem in die Jahre gekommenen, viel zu kleinen Crucible, wohin die Snooker-Welt seit 1977 pilgert. Aus solchen sportpolitischen Entscheidungen und Entwicklungen hat sich Rolf Kalb in seinen Sendungen immer herausgehalten. Stellung zu beziehen, sei nicht seine Aufgabe, hat er gesagt. Er sei „Snooker-Kommentator und nicht Lehrer für politische Bildung“.
Die letzten Stunden in seiner Hauptrolle schlagen seit dem 20. April. 17 Turniertage, 46 Sessions, rund 150 Stunden live (auch im Stream auf discovery+), es ist ein Marathon. Momentan ist Halbzeit in Sheffield. Ronnie O‘Sullivan? Judd Trump? John Higgins? Oder wer gewinnt die WM? Am 6. Mai sind wir schlauer.
Und dann wird Rolf Kalb die Kopfhörer abziehen. „Das wird sicherlich ein emotionaler Moment werden“, sagt er. Wahrscheinlich werde er noch ein Glas Wein gemeinsam mit seiner Frau trinken.
Vielleicht schickt Eurosport einen edlen Tropfen nach Gütersloh.