Diese Telegeschichte beginnt am 18. April 2001 in der Berliner Ufa-Fabrik. Einem kleinen Theater im Stadtteil Tempelhof. Rund 270 Personen fasst der Saal. An diesem Abend feiert dort das Stück „Fahr zur Hölle, Schwester!“ seine Weltpremiere. Es greift den Kino-Klassiker „Was geschah wirklich mit Baby Jane?“ auf. Ein Psychothriller aus dem Jahr 1962. Darin tyrannisiert der vergessene Kinderstar Jane Hudson ihre erfolgreiche, im Rollstuhl sitzende Schwester Blanche. Während Jane zunehmend dem Wahnsinn verfällt, versucht Blanche, sich aus der Gefangenschaft in ihrem gemeinsamen Haus zu befreien.
Für das Filmprojekt konnte Regisseur Robert Aldrich damals mit Joan Crawford und Bette Davis zwei wahre Schauspiellegenden des frühen Hollywoods verpflichten. Allerdings waren ihre Karrieren zum Zeitpunkt der Dreharbeiten längst ins Stocken geraten. Gerade in der Kombination der beiden Leinwandikonen, die auch privat als Rivalinnen galten, lag der Reiz des Films. Für ihre Darstellung der Blanche wurde Davis zum zehnten und letzten Mal für einen Oscar nominiert.
Diese Story wird nun unter der Regie von Chris Kurbjuhn auf der Berliner Bühne neu erzählt. Als Remake, Hommage und Parodie zugleich. Die ursprüngliche Handlung wird dabei nicht einfach bloß übernommen. Sie wird weitergesponnen und überspitzt. Entsprechend heißen die Hauptfiguren jetzt Blanche Lookalike und Jane Differentlook. Verkörpert werden sie nicht mehr von alternden Diven, sondern von jungen Männern, die in bester Drag-Manier überschminkt und in glitzerndem Fummel auf der Bühne agieren. Einer von ihnen ist der Autor des Stücks, Dietrich Dee Novak, der andere Dieter Rita Scholl. Ihre wilde Maskerade kombinieren sie mit Zitaten und Anspielungen auf legendäre Horrorfilm-Klassiker wie „Frankenstein“ und „Psycho“.

Die Reaktionen auf die Uraufführung fallen gemischt aus. Die „B.Z.“ nennt die Aufführung „recht amüsant“, während Peter Zander in seiner Besprechung für die „Berliner Zeitung“ Begriffe wie „dämlich“, „kläglich“, „schlapp“ und „enervierend“ verwendet.
Stepptanz des Wahnsinns
Ein halbes Jahr nach der Uraufführung des Theaterstücks schloss Kinoregisseur Oskar Roehler im naheliegenden Potsdam die Dreharbeiten zu seinem jüngsten Projekt ab. Auch er nahm sich den Klassiker mit Bette Davis und Joan Crawford vor und verfilmte ihn im Auftrag des Fernsehsenders RTL neu. Offenbar diente hierbei Novaks Bühnenwerk als Inspiration, denn sein Streifen trug ebenfalls den Titel „Fahr zur Hölle, Schwester!“. Inhaltlich hatten beide Werke jedoch wenig miteinander gemein. Roehler verlegte in seiner Version die Handlung in die Gegenwart und siedelte sie in eine Welt außerhalb des Showgeschäfts an.
Wieder ging es um zwei Schwestern. Diesmal hießen sie Claire und Rita. In ihrer Kindheit verband sie die gemeinsame Liebe zum Stepptanz. Doch Claire stand stets höher in der Gunst ihrer Mutter. Als sich das Lieblingskind eines Tages in einer Wäscheschleuder versteckte, verlor sie einen Fuß und war fortan auf einen Rollstuhl angewiesen. Der Traum von einer Karriere als Profi-Stepptänzerin war dahin.
Fast vierzig Jahre später kehrt Claire als angesehene Architektin in das elterliche Haus zurück. Sie hofft von ihrer Mutter, das Geld für eine teure Operation zu bekommen. Das Haus ist mittlerweile leergeräumt und verwahrlost, die Mutter angeblich verreist. Einzig Rita, die nach Claires Auszug mit der enttäuschten Mutter allein blieb, ist noch dort. Völlig verstört. Für sie trägt die überperfekte Schwester an all ihre seelischen Verletzungen die alleinige Schuld, weswegen sie sie einsperrt, quält und foltert. Schließlich findet sich Claire auf dem Dachboden wieder. Neben ihr ein toter Postbote und die halbverweste Leiche ihrer Mutter. Rita hat sie alle dort für eine letzte, groteske Steppvorführung versammelt. Wow, was für eine wilde Story.
Teure Stars in billigen Kostümen
Für die Umsetzung des hanebüchenen Scripts gelang Roehler und seinem Team ein echter Coup. Sie mussten nicht auf irgendwelche alternden Stars zurückgreifen, sondern konnten mit Hannelore Elsner und Iris Berben zwei der bekanntesten aktiven Schauspielerinnen engagieren. Roehler und Elsner hatten zuvor für das vielfach gelobte Drama „Die Unberührbare“ zusammengearbeitet. Iris Berben wiederum konnte für das Projekt gewonnen werden, weil die Firma ihres Sohnes für die Produktion verantwortlich war.
Die spektakuläre Besetzung versprach großes Schauspielkino, das dem trashigen Drehbuch zu einer gewissen Würde verhelfen könnte. Vor allem garantierte sie Aufmerksamkeit. Elsner und Berben galten jede für sich als große Stars. Entsprechend fokussierten sich die meisten Vorbesprechungen und Berichte auf die Frage, wie die beiden am Set miteinander auskamen. Zu verlockend und zu naheliegend schien offenbar die Annahme, sie könnten sich aufgrund ihrer vermeintlich großen Egos nicht ausstehen. Doch Berben und Elsner präsentierten sich betont professionell und ließen jeglichen Verdacht an sich abperlen.
Bei den Dreharbeiten stellten sie sich gänzlich in den Dienst des bizarren Szenarios und füllten ihre überzeichneten Figuren mit sichtlichem Vergnügen aus. Berben trat als Rollstuhlfahrerin Claire auf, die wie eine biedere Gouvernante angezogen mehr schlecht als recht älter geschminkt war. Elsner trug als Rita eine rote Perücke, billigen Schmuck und ein viel zu kurzes Hippie-Kleid. Auf ihrer Stirn prangte ein Tattoo des Wortes „Fuck“.

Die billigen Looks passten ins Gesamtbild. Oskar Roehler überdrehte die ohnehin zugespitzte Vorlage zur abgründigen Groteske. Sie versuchte sichtlich, das Original in puncto Brutalität und Absurdität in jeder Szene zu überbieten. Zugleich war sie erneut gespickt mit vielen Zitaten aus Genre-Klassikern wie „Psycho“, „Eraserhead“ oder „Sunset Boulevard“. Als eine Art „Splatter-Horror-Drama“ beschrieb Iris Berben das Ergebnis passenderweise. Und so kamen aus dem Wasserhahn plätscherndes Blut, leichenfressende Maden, ein gekochter Kinderfuß, eine herumwirbelnde Prothese und ein blutüberströmter Bettpfosten zum Einsatz. Und mittendrin eine immerzu keifende Elsner und eine jammernde Berben.
Zu hart für Primetime
Als man den Film vorab wie üblich der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) zur Prüfung vorlegte, kam der Ausschuss angesichts all der körperlichen und seelischen Gewalt zu dem Ergebnis, dass sowohl einzelne Szenen als auch die „Gesamtatmosphäre“ als für Jugendliche zu belastend eingeschätzt wurden. Darum erhielt er keine Freigabe für das Hauptabendprogramm und durfte erst nach 22.00 Uhr gezeigt werden.
Für die Verantwortlichen von RTL ein Desaster. Einen derart hochkarätig besetzten Film, der zudem ein Budget von 3,5 Millionen DM verschlang, konnte man nicht einfach ins Spätprogramm abschieben. Sie gingen gegen die Entscheidung in Berufung. Ohne Erfolg. Die wiederholte Prüfung ergab keine andere Altersfreigabe.
Daraufhin legten sie der FSF eine um 36 Sekunden gekürzte Fassung vor. Aus dieser hatten sie sechs Szenen entfernen lassen, die zuvor vom Ausschuss als besonders kritisch eingestuft worden waren. Abermals vergebens. Der Prüfausschuss blieb bei einer Freigabe ab 22.00 Uhr. Erst die erneute Berufung brachte Bewegung in die Angelegenheit. Unter der Bedingung, dass der Film in allen Ankündigungen unmissverständlich als „Psychothriller“ bezeichnet werde, genehmigte der zweite Berufungsausschuss letztlich eine Ausstrahlung ab 21.00 Uhr.
RTL war mit diesem Zugeständnis trotzdem unzufrieden, da der Sendetermin unmittelbar bevorstand und das Werk bereits intensiv mit einer Startzeit um 20.15 Uhr beworben worden war. Die Erstellung einer weiteren Schnittfassung fiel ebenfalls aus. Nach all dem Hin und Her blieb dafür schlicht keine Zeit mehr. Und so feierte der Film „Fahr zur Hölle, Schwester!“ am Mittwoch, den 9. Oktober 2002 seine TV-Premiere. Entgegen der FSF-Freigabe schon um 20.15 Uhr.

Hot oder Schrott?
Die Kritiken fielen danach gemischt aus. Es fanden sich durchaus positive Stimmen. Norbert Wehrstedt beschrieb den Film in der Leipziger Volkszeitung beispielsweise als „hinreißenden Psychohorror“ und bescheinigte ihm eine „visuelle Kinoqualität“. Noch überschwänglicher fiel das Lob von Henrik Düker in der „Berliner Zeitung“ aus. Er schwärmte: „Wenn eine erschreckend hässliche Hannelore Elsner im viel zu engen Ballerina-Kostüm vor ihrer toten und verwesten Mutter, dem erschlagenen Postboten und einer halb verdursteten Iris Berben zu steppen beginnt, ist die Szene an Absurdität kaum noch zu überbieten.“ Seine Rezension beendete er mit dem Fazit: „Eine wahre Meisterleistung, nicht nur aus kosmetischer Sicht.“
Solche Lobeshymnen blieben die Ausnahme. Die meisten Reaktionen gingen mit der Produktion deutlich härter ins Gericht. Sandra Kegel etwa kritisierte in der „Frankfurter Allgemeinen“, dass es Elsner und Berben nicht gelungen wäre, „den psychologischen Untergrund der eskalierenden Brutalität“ zu entfalten. Unterdessen bemängelte Gitta Düperthal in der taz, dass der langweilige Film aus „Plattitüden und Klischees satt“ bestehe und einer „eindimensionalen RTL-Logik“ gefolgt wäre. Eine Langeweile, die bereits nach 20 Minuten aufkam, schrieb auch Anke Kronemeyer dem TV-Movie in der Rheinischen Post zu. „Kein Spannungsbogen, keine Überraschung“, lautete ihre nüchterne Bilanz.
Wenig Gutes fand ebenso der wunderbare Kritiker Hans Hoff, der pointiert bemerkte: „Das Scheitern der 52-jährigen Berben beim krampfhaften Bemühen, ein überzeugendes Opfer abzugeben, wird aber noch meilenweit übertroffen durch den Klamauk, mit dem Hannelore Elsner ihre Rolle ausschmückt. Über lange Strecken wirkt die 60-Jährige so, als habe sie eigentlich mit einem Engagement bei der Horrorvariante des Komödienstadls gerechnet.“ Autsch.
Einigkeit herrschte in der Presse nur in einem Punkt. Der kurze Auftritt von Modedesigner Wolfgang Joop als Claires Freund ging total daneben.
Wenig glanzvoll fiel zudem die Resonanz beim Fernsehpublikum aus. Gerade einmal durchschnittlich 3,80 Millionen Menschen hatten den Film eingeschaltet. Für eine Eigenproduktion mit einem solchen Cast und einem solchen Budget ein enttäuschendes Ergebnis. Sie verpasste sogar die Top Ten des Tages.
Nur eine Empfehlung?
Es stand ja noch die Auseinandersetzung mit der FSF aus, über deren Freigabe sich die Verantwortlichen von RTL hinweggesetzt hatten. Dort befasste man sich am Tag nach der Premiere in einer Sitzung mit dem Verstoß. Das Verhalten des Senders wurde darin scharf kritisiert, da es die Autorität und Expertise der Prüfenden untergrub, die sich zuvor mehrfach gegen eine Jugendfreigabe ausgesprochen hatten.
Die Vertreter von RTL wiederum argumentierten, dass die zugrunde liegende Prüfordnung überhaupt keine spezifische Freigabe ab 21.00 Uhr vorsehe. Es werde lediglich zwischen einer Ausstrahlung innerhalb des Hauptabendprogramms (20.00 bis 22.00 Uhr) und außerhalb dieses Zeitraums unterschieden. Ein Film, der mit dem Vermerk auf eine Sendezeit ab 21.00 Uhr versehen werde, erhalte also automatisch eine Freigabe für das gesamte Hauptabendprogramm und dürfe folglich ebenso ab 20.15 Uhr gezeigt werden. Der 21.00-Uhr-Hinweis sei daher nur als unverbindliche Empfehlung zu verstehen.
Dem widersprachen mehrere Angehörige der FSF-Gremien. Ihnen missfiel, dass das Entgegenkommen in der zweiten Berufung nun als Argument gegen sie verwendet wurde, um die ursprüngliche Entscheidung vollständig auszuhebeln. Zugleich verwiesen sie darauf, dass zuvor bei insgesamt 33 Filmen und 37 Serienepisoden eine Ausstrahlung ab 21.00 Uhr angeordnet und dies von den anderen Sendern stets akzeptiert worden sei.
Innerhalb der FSF gab es ebenso Stimmen, die die Argumentation von RTL nachvollziehen konnten. Sie erkannten an, dass die Prüfordnung nicht eindeutig genug formuliert war und einen entsprechenden Interpretationsspielraum zuließ. Zu ihnen gehörten der damalige Geschäftsführer Joachim von Gottberg und der Jurist Prof. Dr. Heribert Schumann. Dieses Lager setzte sich am Ende durch und verhinderte so eine Rüge für den Sender. Um ähnliche Fälle zu vermeiden, appellierte man an die Prüfenden, bei vergleichbaren Grenzfällen künftig sicherheitshalber eine Freigabe nach 22.00 Uhr zu erteilen.
Aktuell ist das Machwerk „Fahr zur Hölle, Schwester!“ übrigens beim Streamingportal RTL+ abrufbar. Dort ist es mit einer Altersfreigabe ab 16 Jahren gekennzeichnet.
Bette vs. Joan – Das Prequel
Rund 14 Jahre nach all diesen Ereignissen feierte im Berliner Theater am Kurfürstendamm mit „Bette & Joan“ ein weiteres Theaterstück seine Uraufführung, das auf dem Klassiker „Was geschah wirklich mit Baby Jane?“ basierte. Diesmal erzählte es die Entstehungsgeschichte des Films und stellte die Rivalität zwischen Bette Davis und Joan Crawford bei den Dreharbeiten in den Vordergrund. Auf der Bühne wurden die beiden Streithennen diesmal von Désirée Nick und Manon Straché verkörpert.
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Für die Wiederaufführung des Stücks im Jahr 2024 im Schlosstheater Neuwied beendete Désirée Nick sogar ihre 20-jährige, öffentlich ausgetragene Feindschaft mit der Schauspielerin Anouschka Renzi. Letztere ersetzte Manon Straché und schlüpfte nun an Nicks Seite in die Rolle von Bette Davis. Der Frieden hielt jedoch bloß bis zur Premiere. Danach fetzten sich die beiden wieder medienwirksam – wie die Schwestern in der Vorlage. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte.