Diese Telegeschichte beginnt am 26. September 1979 im Bundeskanzleramt in Bonn. An diesem Mittwoch kommt dort das Kabinett unter Kanzler Helmut Schmidt zusammen. Auf der Tagesordnung stehen Beratungen zur „Neufassung des Umsatzsteuergesetzes“, zur „Erhöhung der Kontingente für Flüchtlinge aus Südostasien“ und zur „Änderung des Soldatengesetzes“. Auf dem Plan findet sich ebenfalls der zunächst unscheinbar wirkende Punkt „Neue Medien“. Aus ihm entwickelt sich eine vierstündige Grundsatzdebatte über die Frage, ob man zum bisherigen Angebot der öffentlich-rechtlichen Anstalten weitere privatrechtliche Rundfunkprogramme zulassen sollte. Die Ministerpräsidenten der Bundesländer hatten sich zuvor darauf geeinigt, über die kommenden Jahre in elf Großstädten ein Breitbandkabelnetz auszubauen. Unter ihnen wurden mit Ludwigshafen, München, Dortmund und Berlin vier Städte als Kabelpilotprojekte ausgewählt, in denen man Technik und Akzeptanz vorab erproben wollte.

Die anwesenden Minister der FDP argumentieren zwar dagegen, doch am Ende setzt sich Schmidt durch. Er erreicht, dass die vier Pilotprojekte sowie die geplante Verkabelung der elf Großstädte auf Eis gelegt werden. Dadurch will er eine „Denkpause“ ermöglichen, bevor durch den Ausbau der Netze „medienpolitische Fakten“ geschaffen werden, die nicht mehr rückgängig zu machen wären. So kommt die Weiterentwicklung der deutschen Fernsehlandschaft zum Stillstand. Vorerst.
Im Streit der Politik
Rund um den Kabelausbau war längst ein harter politischer Wettstreit zwischen den Parteien entbrannt. CDU und CSU hatten sich schon lange für die Einführung eines kommerziellen Rundfunks eingesetzt. Als Argumente führten sie nach außen häufig an, dass man damit neue Märkte, zusätzliche Werbeflächen für Industrie und Handel und auf diese Weise viele Arbeitsplätze gewinnen könne. Tatsächlich war für viele CDU-Funktionäre entscheidender, dass man den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als zu „linkslastig“ empfand, da dort konservative Positionen und Inhalte aus ihrer Sicht zu wenig Gehör fanden. Eine Zuspitzung erfuhr dieses Misstrauen im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 1975, als die CDU mit der sogenannten „Rotfunk“-Kampagne den WDR attackierte. Die Hoffnung bestand darin, dass man als wirtschaftsnahe Partei bei privatwirtschaftlichen Sendern die eigenen Themen leichter platzieren konnte.
Öffentlich durfte das natürlich so nicht begründet werden. Darum verklausulierte man dieses Ziel hinter der Formulierung, dass man mit der Erweiterung des Rundfunkspektrums im Sinne der Demokratie die Meinungs- und Medienvielfalt vergrößern wolle. Einer der lautesten Fürsprecher war der ehemalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl. Er setzte sich nicht zuletzt für eine Genehmigung von kommerziellen Anbietern ein, weil der Filmhändler Leo Kirch ein enger Freund von ihm war. Dieser wollte wiederum einen eigenen TV-Sender gründen, auf dem er sein umfangreiches Film- und Serienarchiv jenseits von ARD und ZDF abspielen konnte. Im Gegenzug sollten Kohl und seine Partei dort regelmäßig Sendezeit erhalten.
Da die CDU sich so nachdrücklich für privaten Rundfunk engagierte, musste die SPD fast zwangsläufig dagegenhalten. Und da sie an der Regierung war und den für den Kabelausbau zuständigen Postminister stellte, konnte sie das Vorhaben ausbremsen.
Die Post geht ab!

Nicht ganz zufällig entwickelte sich ausgerechnet das Kabelpilotprojekt im rheinland-pfälzischen Ludwigshafen zum Vorzeigeobjekt. Mit Kohls Nachfolger Bernhard Vogel fand sich dort ein neuer Ministerpräsident, der dessen aggressiven Vorstoß für das Privatfernsehen ebenso entschlossen fortsetzte. Vogel trieb das Vorhaben so effektiv voran, dass das Ludwigshafener Netz am schnellsten einsatzbereit war. Hierdurch erreichte er, dass die Wiege des Privatfernsehens dauerhaft in Rheinland-Pfalz liegen würde.
Teures Vergnügen
Doch ganz so heiß erwartet, wie man dachte, war das Kabelprojekt gar nicht. Kurz vor Weihnachten 1983, also wenige Tage vor dem Start, lagen gerade einmal 1.660 unterschriebene Anträge auf Verkabelung vor. Geplant hatte man eigentlich mit rund 40.000 Haushalten.
Die Zurückhaltung hing vor allem damit zusammen, dass für den Anschluss eine einmalige Gebühr von 250 DM an die Post zu zahlen war. Für das Verlegen der Leitungen zwischen Hausanschluss und eigener Steckdose fielen oft zusätzliche Kosten in Höhe von 300 Mark an. Außerdem war für den Empfang ein kabeltauglicher Fernseher nötig. Alle Geräte, die vor 1981 produziert worden waren, konnten dafür nicht genutzt werden und mussten durch einen neuen Apparat ersetzt werden. Alternativ konnte ein Konverter angeschafft werden, für den die Post bis dahin lediglich eine Box vom Hersteller Blaupunkt für etwa 400 DM freigegeben hatte. So summierten sich die Anfangsinvestitionen schnell auf 1.000 Mark. Hinzu kam eine monatliche Empfangsgebühr von sechs DM. In einer Zeit, in der es noch kein Pay-TV gab und der terrestrische Fernsehempfang (abgesehen von den Rundfunkgebühren) grundsätzlich kostenlos war, bildete all das eine hohe Einstiegshürde für ein Kabelfernsehen, von dem die meisten Menschen gar keine Vorstellung besaßen, was sie davon überhaupt zu erwarten hatten.
Wer will einen Kabelsender haben?
Zögerlichkeiten zeigten sich nicht nur beim Publikum, sondern ebenso auf der Angebotsseite. Zwar hatten sich bei der Betreiberfirma des Kabelnetzes, der Anstalt für Kabelkommunikation (AKK), über 100 Interessenten gemeldet. Darunter waren Firmen, Verbände und Organisationen. Die meisten von ihnen verfügten jedoch entweder nicht über ernsthaftes Interesse oder nicht über die Mittel, einen kompletten Sender zu betreiben. Oft war allenfalls ein wiederkehrendes Programmfenster möglich. Selbst nachdem man versucht hatte, großzügig auszuwählen, Angebote zu kombinieren und einen schrittweisen Einstieg zu erlauben, standen im ersten Jahr von den 24 vorhandenen TV-Kanälen bloß für 19 Inhalte bereit.
Dass überhaupt so viele Anbieter zustande kamen, war vor allem einer Klausel zu verdanken, die Christian Schwarz-Schilling und Bernhard Vogel eingebracht hatten, um das gefährdete Projekt abzusichern. Die AKK war nämlich ebenfalls für die Vergabe der Programmplätze auf dem ersten europäischen Fernsehsatelliten ECS zuständig. Aufgrund seiner enormen Reichweite waren diese Plätze wesentlich begehrter. Um überhaupt für eine Aufschaltung in Betracht zu kommen, musste man zunächst etwas zum ungeliebten Ludwigshafener Kabelprojekt beitragen. Oder, wie es der damalige AKK-Geschäftsführer Claus Detjen formulierte: „Ohne Bodenturnen kommt man nicht auf den ECS.“
Die ersten Privatsender
So erklärte es sich, warum sich Filmhändler Leo Kirch gemeinsam mit einem Konsortium aus Verlagen und Firmen um eine Einspeisung im begrenzten Ludwigshafener Kabel bewarb. Eigentlich hatten sie sich zusammengeschlossen, um ein ambitioniertes Vollprogramm über den Satelliten deutschlandweit zu verbreiten. Das Kabelnetz war deshalb vor allem eine notwendige Zwischenstation. Und so bekam die PKS (Programmgesellschaft für Kabel- und Satellitenrundfunk) als einer von zwei rein kommerziellen Anbietern den Kanal 15 zugewiesen. Nachdem die Aufschaltung auf den Satelliten geglückt war, wechselte die PKS zu Beginn des Jahres 1985 ihren Namen zum bis heute gültigen „Sat.1“.

Ein bunter Blumenstrauß an Programm
Platz 17 ging an einen „Mischkanal“, zu dem mehr als ein Dutzend Einzelanbieter (hauptsächlich Verbände oder religiöse Vereinigungen) ihre Beiträge beisteuerten. Der Nachbarkanal 16 wurde die Heimat der „Kooperationsgemeinschaft Bürgerservice“. Er diente als eine Art bewegte Litfaßsäule, auf der 25 Initiativen ihre Dienstleistungen für die Region präsentierten. Unter anderem informierten die Landesverkehrswacht Rheinland-Pfalz e. V. und die Deutsche Lesegesellschaft in Mainz über ihre Aktivitäten. Aber auch Banken und Sparkassen stellten die Vorteile des Bausparens dar oder erklärten, wie man per Scheckkarte nach Schalterschluss Geld aus dem Automaten ziehen konnte.
Weitere Plätze wurden mit drei TV-Angeboten aus dem benachbarten Frankreich sowie mit den englischsprachigen Sendern „Satellite Television“ und „Sky Channel“ besetzt (Kanäle 04 bis 07 und 14). Die Frequenzen 10 und 18 gingen erst im Laufe des Jahres an den Start. Und zwar mit „Musicbox“, dem Vorläufer des späteren Tele 5, sowie dem nur wenige Monate existierenden „Movie Channel 1“.
Ironischerweise stammte ein Großteil des Programms vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das man ja eigentlich mit dem Kabelprojekt ergänzen oder herausfordern wollte. Neben dem bereits erwähnten „ZDF 2“ strahlte das Zweite auf einer eigenen Frequenz (Kanal 12) den „ZDF Musikkanal“ aus. Er zeigte täglich sechs Stunden lang beliebte Pop- und Rockmusik sowie „Die schönsten Melodien der Welt“. Im Jahr 1989 wird er im Kultursender 3sat aufgehen. Vom Südwestfunk kam derweil „SWF – Der schlaue Kanal“, dessen Inhalte sich aus Bildungsformaten wie „Telekolleg“, Sprachkursen, Dokumentationen und Ausgaben der „Sesamstraße“ zusammensetzten. Zuletzt erhielten die Dritten Programme des Südwestfunks, des Süddeutschen, des Hessischen und des Bayerischen Rundfunks Frequenzen im Kabelnetz zugesprochen. Dadurch waren die beiden letztgenannten erstmals außerhalb ihrer Heimatbundesländer empfangbar.
Dieser bunte Blumenstrauß aus öffentlich-rechtlichen Angeboten, lokalen Informationsdiensten und ambitionierten Privatsendern bildete den Umfang des ersten deutschen Kabelpilotprojekts, das sich über Ludwigshafen, Frankenthal, Bad Dürkheim, Südliche Weinstraße sowie über Teile von Neustadt an der Weinstraße und Speyer erstreckte. Es wurde am 1. Januar 1984 von Ministerpräsident Bernhard Vogel durch das Drücken eines unscheinbaren Knopfes im AKK-Sendezentrum in Betrieb genommen. Ein Moment, der immer wieder als der „medienpolitische Urknall von Ludwigshafen“ beschrieben wird.
Mit dieser symbolischen Geste gab er zugleich den Startschuss für eine weitere, ganz besondere Institution. Auf Kanal 19 ging nämlich der erste „Offene Kanal“ Deutschlands auf Sendung. Hier durften Bürger:innen Fernsehen nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Und sie machten davon regen Gebrauch: mit radikalen Ansätzen, wilden Beiträgen und einer ungewohnt schlechten Qualität. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte, … die in der kommenden Woche erzählt wird.