Menschen mit einer sichtbaren, schweren Behinderung sind im Fernsehen deutlich unterrepräsentiert. Laut der Studie "Sichtbarkeit und Vielfalt: Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität" von Elizabeth Prommer machte dieser Personenkreis im vergangenen Jahr nur 0,4 Prozent der Personen auf den Bildschirmen aus, während es gemessen an der Realität eigentlich 5 bis 6 Prozent sein müssten. Und auch wenn in der Diversity-Debatte viele Bereiche mitgemeint sind, stehen einige eher im Vordergrund als andere.

Menschen mit Behinderungen fühlen sich in den Diskussionen um Vielfalt oft nicht angesprochen. Diversity? Da geht’s um Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung - und irgendwann vielleicht auch noch ein bisschen um Behinderungen. Das ist übrigens kein deutsches Phänomen - aber eben auch hier ein Thema. "Wenn es in Deutschland um Diversität geht, werden Menschen mit Behinderungen entweder gar nicht genannt oder nur ganz am Ende", sagt auch die Journalistin Judyta Smykowski im Gespräch mit DWDL.de. Sie ist Redaktionsleiterin des Online-Magazins "Die Neue Norm", einem Projekt der Sozialhelden. Außerdem leitet sie die Webseite leidmedien.de und arbeitet als freie Journalistin, unter anderem für die "taz". 

Die Gründe für die Tatsache, dass Menschen mit Behinderungen in der Diversity-Debatte oft hinten runter fallen, seien verschieden, so Smykowski. "Es gibt immer noch große Berührungsängste, wobei das inzwischen oft Ausreden sind, die nicht mehr gelten sollten. Gerade Menschen in Leitungsfunktionen und Personalerinnen und Personaler müssen sich mit Vielfalt auseinandersetzen und dazu lernen", sagt sie. Im Normalfall würden Menschen mit Behinderungen auf Karriereseiten von Unternehmen nicht stattfinden, kritisiert Smykowski. Probleme gebe es zudem oft bei der Barrierefreiheit, das fängt meist schon bei den Gebäuden an, die oft nicht behindertengerecht gebaut sind. Und dann gibt es noch einen Satz, der aktuell in vielen Stellenausschreibungen zu finden ist: "Bei gleicher Eignung ziehen wir Menschen mit Behinderungen vor", heißt es dann. Dieser Satz heiße aber nicht, dass sich Unternehmen auch wirklich daran halten, sagt die Journalistin. "Dieser Satz muss mit Bedeutung gefüllt werden. Dafür müssen sich die Personalerinnen und Personaler mit dem Thema auseinandersetzen. Es reicht nicht, Menschen zum Gespräch einzuladen, nur weil man sich dazu verpflichtet fühlt."

Medien kommt entscheidende Rolle zu

Judyta Smykowski © Alisa Sonntag
Judyta Smykowski kritisiert im Gespräch mit DWDL.de aber auch Aussagen von Personalverantwortlichen, die diese vermutlich gar nicht böse meinen. Oft hieße es dann, die Unternehmen wollten von ihren Bewerberinnen und Bewerbern "lernen". Da werde die Verantwortung jedoch auf die Menschen verlagert, die einfach nur einem ganz normalen Job nachgehen wollen. Anderen Personen etwas beibringen - das ist schließlich auch eine Verantwortung. Doch die Probleme fangen schon lange vor dem Erwerbsleben an: "Bei geistigen Behinderungen ist der Weg der Menschen hinein in eine Parallelstruktur oft schon vorgezeichnet", sagt Smykowski. Was die damit meint? Viele geistig behinderte Menschen werden auf spezielle Schulen geschickt und arbeiten in Behindertenwerkstätten. So werden sie von anderen Menschen in der Gesellschaft abgekoppelt, das helfe nicht bei der Integration. 

Ganz entscheidend geprägt werde das Bild von Menschen mit Behinderungen von den Medien, so Smykowski. Und so lange das noch sehr klischeehaft sei, werde sich das Mindset auch nicht verändern. Einige Dinge haben sich zwar schon gebessert (zum Beispiel die Floskel, jemand sei an einem Rollstuhl "gefesselt"). Andererseits gibt es in Magazinen immer noch sogenannte Behinderten-Experimente, in denen Reporterinnen und Reporter einen Tag lang so tun, als wären sie blind oder auf eine andere Weise behindert . Am Ende nimmt sie oder er die Maske jedoch ab und das Leben geht normal weiter. Besser wäre es, sagt Smykowski, behinderte Menschen in ihrem Alltag zu begleiten und ihnen einfach zu glauben, wenn sie von gewissen Herausforderungen und Problemen berichten. Dies mit nicht-behinderten Menschen nachzustellen, sei nicht nötig. 

 

"Wenn es in Deutschland um Diversität geht, werden Menschen mit Behinderungen entweder gar nicht genannt oder nur ganz am Ende"
Journalistin Judyta Smykowski

Dass es noch solche Beiträge wie die beschriebenen Experimente gibt, hängt zum Teil sicherlich auch damit zusammen, dass noch immer vergleichsweise wenige Menschen mit Behinderungen in den Medien arbeiten und ihren Input einbringen können. Grundsätzlich sei die Berichterstattung oft zu sehr von Mitleid oder Bewunderung gegenüber Personen mit Behinderungen geprägt. Das sei für viele Menschen unangenehm und eben keine Begegnung auf Augenhöhe, kritisiert Smykowski. "Die nachrichtlichen Kriterien hören zu oft bei den Behinderungen auf", sagt sie. 

"GoT" und "Walking Dead" machen es gut...

Auf das Fernsehen bezogen sagt Judyta Smykowski, dass es schon helfen würde, wenn einfach mehr Menschen mit Behinderungen stattfinden würden - ohne dass das Thema die Behinderung ist. Mit Abstrichen hat das "Dr. Klein" gemacht, wenn man den Titel der ZDF-Serie mal außen vor lässt. "Ich würde nicht sagen, dass die Öffentlich-Rechtlichen jetzt schon divers sind. Aber es gibt Druck, der sie dazu zwingt, sich Projekte zu überlegen", so Smykowski, die vor allem Funk einen guten Job in diesem Bereich attestiert - auch wenn immer wieder Formate eingestellt würden. "Vielleicht wäre eine Quote in diesem Bereich gut, um mehr Vorbilder zu schaffen", sagt sie in Bezug auf diverse Formate beim jungen Angebot von ARD und ZDF. 

Blickt man sich im Fernsehen um, gibt es durchaus eine erkleckliche Anzahl an Formaten, in denen Menschen mit Behinderungen vorkommen, ohne dass ihre Behinderung ein besonders großes Thema wäre. Vor allem internationale Sender und Anbieter machen es vor. Bei "Game of Thrones" etwa war Tyrion Lannister, gespielt von Peter Dinklage, über Jahre hinweg eine tragende Figur. Bei "Walking Dead" spielt die gehörlose Schauspielerin Lauren Ridloff nun schon seit 2018 in einer Hauptrolle mit. Die Kommunikation über Gebärdensprache wird wie selbstverständlich in die Handlung eingebaut. In Deutschland war erst am Sonntag Tan Çağlar im "Tatort" zu sehen, als erster Ermittler überhaupt in einem Rollstuhl.

... "Vikings" und "Blind ermittelt" dagegen nicht

"Es ist nicht nur wichtig, die Geschichten in Serien und Filmen stattfinden zu lassen", warnt die Journalistin Judyta Smykowski. "Es ist mindestens genauso wichtig, Schauspielerinnen und Schauspieler zu engagieren, die das auch so erleben." Authentische Besetzung heißt das. Das bedeutet: Gehörlose Charaktere sollten eben auch von solchen gespielt werden, ebenso bei Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern. Denn es gibt diese Schauspielerinnen und Schauspieler durchaus, oft wird aber doch anders besetzt. Bei "Vikings" etwa spielte Alex Høgh Andersen den behinderten Ivar, obwohl er selbst keine Behinderung hat. Und in der österreichischen Krimireihe "Blind ermittelt" spielt Philipp Hochmair einen blinden Ermittler, obwohl er nicht blind ist. 

"Oft genug werden die Rollen in deutschen Projekten nicht authentisch besetzt. Die Entwicklung geht zwar in die richtige Richtung, aber es ist noch längst nicht genug", sagt Smykowski. Sie verweist noch auf Netflix, wo es verschiedene gute Sendungen gebe. In vielen Formaten ("Sex Education", "The Circle" etc.) kommen Personen mit Behinderungen vor, ohne dass das Thema wäre. Erst vor einigen Wochen verbündete sich Netflix mit der BBC, um Formate umzusetzen, die vorrangig von behinderten Kreativen umgesetzt werden (DWDL.de berichtete). Raul Krauthausen, Aktivist und Vorstandsmitglied bei den Sozialhelden, fand zuletzt deutliche Worte in Bezug auf Serien, Shows und Filme, die Rollen unauthentisch besetzen. "Das ist Blackfacing zum Thema Behinderungen", sagte er bei der Vorstellung der Vielfalts-Studie von Elizabeth Prommer. 

In der deutschen Fiction gibt es nach Beobachtung von Judyta Smykowski zu viele Rollstuhlfahrer. "Da würde ich mir mehr Mut wünschen, wenn es um andere Behinderungen geht", so Smykowski gegenüber DWDL.de. In jedem Fall haben Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren eine große Macht über Minderheiten. Was sie (nicht) schreiben, wird später verfilmt. "Was die sich ausdenken, ist meinungsbildend. Diese Verantwortung ist sehr groß und da gibt es noch Luft nach oben."

Behinderte Menschen produzieren eigene Formate

Einer, der Fernsehen für und mit Menschen mit Behinderungen macht, ist Hermann Hoebel. Er ist Geschäftsführer des Vereins abm - arbeitsgemeinschaft behinderung und medien. Diesen gibt es seit 1983, ein Jahr später begann man mit der Ausstrahlung eines regelmäßigen Informationsprogramms für behinderte Zuschauer im Münchner Kabelpilotprojekt. Die abm ist also älter als viele große Privatsender. Hoebel arbeitet mit einem kleinen Team an festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, viele weitere sind frei für den Verein tätig. Fest angestellt sind nur Menschen mit einer Behinderung - und die machen dann auch das Programm. 

Derzeit produziert man unter dem Titel "Yoin" ein Jugendmagazin, hinzu kommen Talk-Sendungen, Dokus und aktuelle Stücke zu Politik- oder auch Sport-Themen. Bei "Yoin" haben auch die beiden Moderatoren Kim Denise Hansmann und Kevin Hoffmann eine Behinderung, die sieht man allerdings nicht sofort. Beide haben Multiple Sklerose. Das sei einmal zum Beginn der Reihe angesprochen worden, immer könne man das aber nicht thematisieren, sagt Hoebel. Stattdessen will "Yoin" ein ganz normales Jugendmagazin sein und bewegt sich mit einer Mischung aus Pranks und Challenges auch genau in diesem Metier. Das Thema Behinderung schwingt immer mit, mal sehr subtil im Hintergrund, mal ist es das Hauptthema. Anbiedernd sind die Sendungen aber nie. 

 

"Das gehört auch zur Inklusion: Es darf keinen Behindertenbonus geben."
Hermann Hoebel, Geschäftsführer des Vereins abm - arbeitsgemeinschaft behinderung und medien

 

Darüber hinaus präsentiert Anita Read mit "Read and Talk" eine Sendung, in der es darum geht, welche Probleme Menschen mit Behinderungen durch Corona haben. "Grenzenlos" ist zudem ein Reisemagazin. Die verschiedenen Formate sind nicht auf einem Sender der abm zu sehen, sondern bei verschiedenen Partnern. Bei Kabel Eins und Sat.1 Gold hat man etwa ein 30-minütiges, monatliches Sendefenster. Bei Sport1 sendet man sogar jede Woche eine halbe Stunde lang. Bei München TV gibt es zudem ein wöchentliches, regionales Programm, das 60 Minuten dauert. Die Formate sind dann natürlich nicht zur besten Sendezeit zu sehen, sondern zu Randzeiten. Aber auch dadurch erreicht man Menschen. 

Barrieren abbauen - auch in den Gebäuden

Hermann Hoebel © Sabine Eckert Hermann Hoebel
"Unser Ziel ist es, Menschen mit Behinderungen vor und hinter die Kamera zu bringen. Wir bilden sie auch aus in der Hoffnung, dass sie später in verschiedenen Redaktionen tätig werden", sagt Hermann Hoebel im Gespräch mit DWDL.de. Grundsätzlich müssten Medienunternehmen barrierefreier werden, mahnt er. "Sie müssen Zugänglichkeit zur Ausbildung schaffen, aber zum Beispiel auch dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderungen überhaupt in ihr Gebäude kommen können." Hoebel sagt, Personen, die eine Behinderung haben, würden oft behindert werden, weil es für sie im Alltag so viele Barrieren gebe, die eigentlich da sein müssten. 

Bei der Darstellung von Menschen mit Behinderungen im Fernsehen sieht Hoebel Verbesserungen. "Es gibt inzwischen immer wieder mal Rollen für Menschen mit Behinderungen, bei denen die Behinderungen nicht im Vordergrund stehen. Das sind aber noch Highlights und das müsste selbstverständlicher werden." Hoebel sagt aber auch, dass eine Produktionsfirma einen Schauspieler oder eine Schauspielerin nur dann besetzen könne, wenn er oder sie Talent habe. "Das gehört auch zur Inklusion: Es darf keinen Behindertenbonus geben." Da ist es wieder, das Thema Augenhöhe. Auch Menschen mit Behinderungen wollen an ihren Leistungen gemessen werden. Es geht nur darum, allen auch die gleichen Chancen zu bieten. 

Mitleid oder Bewunderung sind unerwünscht

Grundsätzlich würde sich die Lage kontinuierlich verbessern. "Aber der Zeitgeist spült die Themen nach oben und derzeit haben Menschen mit Behinderungen ein Problem, sich in der Debatte Gehör zu verschaffen", so Hoebel. Die Betroffenen würden das aber kennen und wüssten, dass es ein langer Weg sei, sich Rechte zu erkämpfen. Als Mitglied einer Teilgruppe müsse man sich immer wieder aktiv melden und um eigene Interessen werben, sagt der abm-Chef. "Vor vielen Jahren waren Menschen mit Behinderungen in den Medien noch gar kein Thema. Und wenn, dann meist immer in einem sehr kirchlichen oder sozialen Aspekt. Da hat man in Menschen mit Behinderungen bedauernswerte Opfer gesehen, das hat sich komplett gewandelt."

Früher war es so, dass die Sendungen der abm von den Partnersendern gezeigt werden mussten, die Politik hatte das so festgelegt. Heute ist das nicht mehr so, Kabel Eins, Sat.1 Gold und auch Sport1 zeigen die Formate freiwillig, wenngleich die Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM) der abm und ihren Zielen nach wie vor sehr wohlgesonnen gegenüber steht. "Bei den Sendern treffen wir verstärkt auf eine jüngere Generation von Verantwortlichen, die dieses Thema nicht mehr nur schnell vom Schreibtisch weg haben wollen. Viele öffnen sich, weil sie die gesellschaftliche Verantwortung spüren", sagt Hoebel. 40 Prozent des abm-Etats kommt von der BLM, 30 Prozent über Förderanträge beim Bayerischen Sozialministerium. Jeweils 10 Prozent der Umsätze kommen von der Aktion Mensch sowie dem Sozialverband VDK, für den man etwa Berichte für das eigene Internetfernsehen macht. Der Rest sind Auftragsfilme und Produktionen. 

Um die volle Förderhöhe bei den bayerischen Behörden und Organisationen zu erhalten, muss die abm 27 Halbstünder pro Jahr produzieren. Hinzu kommen zwölf Stunden Minimum an neuem Programm für München TV. Das sind keine extrem großen Mengen, für das kleine Team von Hoebel ist es trotzdem immer eine Herausforderung - durch die aber auch ein regelmäßig Fluss an neuen Inhalten entsteht. Ein Ziel von Hermann Hoebel und seinem Team ist auch, dass möglichst viele Menschen die Programme sehen. So gibt es Angebote wie Untertitel, Audiodeskription oder Gebärdensprache. Bei "Yoin" gibt es zudem eine Beschreibung der Sendung in leichter Sprache. Das ist dann auch für solche Personen gut, deren Muttersprache nicht deutsch ist. Am Ende aber kommt es natürlich vor allem auf die Inhalte an. Und die mache man "nicht mit dem Holzhammer", sagt Hoebel. "Wir zeigen selbstbewusste Personen, die etwas einfordern und Spaß am Leben haben." Mitleid oder Bewunderung will man auch bei der abm nicht.