Vorurteil der Woche: Es gibt nichts Faszinierenderes als Live-Fernsehen.

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Jedes Jahr das gleiche: Sobald die großen Erfolgsshows der Privatsender aus der Castingphase in die Live-Shows rutschen, geht ihnen die Puste aus. Zumindest ist der Wechsel eine Garantie für die Sender, bis zum Finale mit deutlich weniger Zuschauern auskommen zu müssen.

"The Voice of Germany" hat diese bittere Erfahrung schon in der allerersten Staffel gemacht, Änderungen halfen nichts. Beim "Supertalent" lässt RTL seit vergangenem Jahr die Entscheiungsshows weg, und bei "Deutschland sucht den Superstar" sind die Zeiten, in denen Moderatoren kurz vor Mitternacht noch mal Dehnungsübungen mit dem Publikum unternahmen, um die Bekanntgabe des Telefonvotings hinauszuzögern, auch Geschichte. RTL-Chef Frank Hofmann hat angekündigt, die Live-Phase 2015 zugunsten der soapigeren Castings "radikal" zu verkürzen.

Woher kommt das bloß? Ist Live nicht immer noch die spannendste Form des Fernsehens, weil es Zuschauern das Gefühl gibt, unmittelbar bei dem dabei sein zu können, was auf dem Bildschirm passiert?

Vielleicht: nicht mehr.

The Voice of Germany© ProSieben

Der Grund dafür ist derzeit donnerstags bis samstags in den Programmen von ProSieben, Sat.1 und RTL zu besichtigen und heißt: "The Voice of Germany" bzw. "Das Supertalent". Die Sendungen selbst sind schuld, dass sie live nicht funktionieren. Und das liegt keinesfalls daran, dass sich die Sender keine Mühe damit gäben.

Schon vor zwei Jahren hat RTL in den "Supertalent"-Halbfinals Eröffnungsspektakel abgefackelt, die so riesig und laut waren, dass eigentlich nur noch ein paar auf Bällen balancierende jonglierende Elefanten gefehlt haben. Und wer einmal im "Voice"-Studio gesessen hat, um live dabei zu sein, wie die Favoriten des Publikums ihr Bestes geben, der wird das so schnell nicht vergessen.

Mit dem Adrenalin, das die Shows in ihrer Anfangsphase in sich hineinpumpen, kann Live aber nicht mehr mithalten. "The Voice of Germany" ist dafür das derzeit beste Beispiel.

"Jetzt! Geht's! Los!", dröhnte Pro Sieben vor einer Woche zu Beginn der vierten Staffel, und dann prasselten ein Countdown mit harten Schnitten und ein Bildgewitter aus Emotionen, Komplimenten, Tränen, Verheißungen, Jubel, ausgeflippten Juroren und ausgeflippten Talenten auf die Zuschauer ein. Die besten Bilder und die größten Momente im Sekundentakt, alles wie im Traum, in schwarz-weiß, mit Hall unterlegt, in Zeitlupe, mit ansteigender Stadionatmosphäre und soviel Energie, dass man eine deutsche Kleinstadt damit hätte über den Winter bringen können. Nachher war jedem Zuseher klar: Was jetzt hier passiert, ist keine Show – sondern ein Versprechen! Oder wie "Voice"-Coach Rea Garvey sagt: "Das ist halt Emotion Achterbahn!"

The Voice of Germany© Sat.1/ProSieben

Obwohl "The Voice" eine Show ist, die in ihrem kalkulierbaren Ablauf gleichförmiger kaum sein könnte, schaffen ProSieben und Sat.1 es, dieses besondere Gefühl bis in die einzelnen Auftritte hineinzuretten. Fast jedes Vorsingen ist ein sorgfältig zusammengesetztes Stakkato der Emotionen. Das beginnt beim Schnitt auf die nervöse Kandidatin hinter den Kulissen, ihre zitternden Hände, ihre letzten Worte vor dem großen Auftritt und dem dumpfen Schlag, mit dem sich die schwere Metalltür zur Bühne öffnet; es reicht über diese eine Sekunde, in der die Kandidatin vor dem Mikrofon steht, mucksmäuschenstill, mit Herzpochen; und es explodiert schließlich beim Auftritt in den schnellen Bildwechseln zwischen Talent, Publikum, Coaches und Familienangehörigen hinter der Bühne.

The Voice of Germany© ProSieben

Die Kandidatin singt fantastisch, ein Coach hat die Hand schon ganz knapp überm Buzzer und entscheidet sich doch noch um, die Familie brüllt lautstark: "Drücken!", die anderen Coaches tanzen schon in ihren Stühlen mit, das Talent gibt nochmal alles, dann buzzern alle auf einen Schlag, das Publikum rastet aus, die Familie rastet aus, Moderator Thore Schölermann rastet aus: "Alle vier!"

Und am Ende hat das gerade mal zwei oder drei Minuten gedauert.

The Voice of Germany© ProSieben

Wahrscheinlich ist "The Voice of Germany" derzeit eine der am besten inszenierten Shows im deutschen Fernsehen. Dass es angeblich "nur um die Stimme" geht, ist Quatsch. Sonst würden die fantastischen Stimmen in den Blind Auditions ja nicht ständig mit Gebrüll, Jubel und Anfeuerungen unterbrochen. Aber genau das funktioniert (Shows online ansehen).

"Das Supertalent" beim Konkurrenten RTL arbeitet mit denselben Mechanismen, obwohl die Inszenierung im Vergleich zu früheren Staffeln deutlich weniger drastisch scheint. Geblieben ist die Dichtheit, mit der die aufgezeichneten Darbietungen den Zuschauern präsentiert werden, nämlich wie im Stil eines Best-of des eigentlichen Auftritts. Das Herzklopfen, die verdutzten Gesichter, das sensationelle Talent, im Splitscreen zittert Bruce Darnell: "Wahnsinn!", dann Standing Ovations, im Hintergrund läuft nachher "Timber" von Pitbull und Kesha, Erleichterung, Bruce fand's "Fantastik!", Guido Maria Kretschmer meint: "Das Beste, was ich je gesehen hab". Jedes Jurymitglied wird mit dem entscheidenden Satz seiner Bewertung reingeschnitten. Dann der Nächste bitte!

Das Supertalent© RTL

Es ist eine Show, in der die Besonderheit Normalität ist und Ekstase die Regel. Alle drei Minuten wieder. "Das Supertalent" hat den Durchschnitt abgeschafft. Entweder ist eine Darbietung "Fantastik" – oder, wenn Jury-Alterspräsident Bohlen einspringen muss, "vier Mal Hühnerkacke". Und fürs nächste Mal verspricht der Off-Kommentator wieder "unglaubliche Gänsehautmomente" (aktuelle Show online ansehen).

All das ist nicht schlimm, ganz im Gegenteil: Das ist Fernsehen! Manchmal auch gar kein schlechtes, weil Shows nun mal dafür gemacht werden, dass sie ihr Publikum packen und mitreißen. Gleichzeitig sorgt die Intensität, mit der die Sender das inzwischen fertig bringen, auch dafür, dass die Realität dagegen aussieht wie ein müder Abklatsch, der gegen das Bildgewitter aus dem Schneideraum keine Chance mehr hat.

Weil sie dem nicht entsprechen kann, auch wenn sie sich live noch so sehr anstrengt.

Das Vorurteil: stimmt nicht.