Die Theorie der Wurmlöcher hat schon so manches spannende Stück Fiction hervorgebracht. Ob "Interstellar", "Contact", "Stargate SG-1" oder "Dark": Stets entdecken die Helden ein Portal, das ihnen die Reise durch Raum und Zeit ermöglicht, unter Umgehung herkömmlicher physikalischer Grenzen. Fragt man echte Physiker oder Kosmologen, so wissen sie von theoretischen Konzepten zu berichten, dass Raum und Zeit in gewisser Weise gekrümmt oder verwirbelt sein könnten, ähnlich wie Wirbelströmungen in Flüssigkeiten oder Gasen, in der Fachsprache Vortexe genannt. Das Wurmloch wäre laut dieser – bislang unbestätigten – Theorie die Verbindung zwischen zwei Punkten in Raum und Zeit, die eine Abkürzung ermöglichen könnte.

So faszinierend diese Überlegungen, so fesselnd ist auch das jüngste Beispiel jenes SciFi-Subgenres, das mit der Krümmung oder Verdrehung der Raumzeit spielt. Und passenderweise gleich "Vortex" heißt. Die Autorinnen Camille Couasse und Sarah Farkas haben ein Crime-Drama geschaffen, das die Abkürzung zwischen Vergangenheit und Zukunft dazu nutzt, ein Verbrechen aufzuklären, genauer gesagt: einen Serienmörder dingfest zu machen. Aber auch, um einen Mord zu verhindern, der in der Vergangenheit schon passiert ist, also in den Lauf der Dinge einzugreifen. Auf dass sich das Publikum fragt: Was würde ich tun, wenn ich mein Schicksal nachträglich so verändern könnte?

"Vortex" spielt auf zwei Zeitebenen, im Sommer 1998 und 2025, in der bretonischen Küstenstadt Brest. 1998 verliert Polizist Ludovic (Tomer Sisley) seine Ehefrau Mélanie (Camille Claris), als sie bei einem vermeintlichen Unfall von den Steilklippen stürzt. 2025 untersucht Ludovic einen Tatort am selben Strandabschnitt, wo eine Frauenleiche gefunden wurde. Die futuristische Polizeiarbeit bedient sich einer VR-Technologie, die aus dem Videomaterial omnipräsenter Drohnen einen virtuellen Raum baut, den die Kommissare wieder und wieder betreten können, ohne dass irgendwelche Spuren in der Zwischenzeit verwischt wären. Als Ludovic zum x-ten Mal den virtuellen Strand nach Indizien absucht, steht plötzlich Mélanie vor ihm.

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Fehlfunktion? Halluzination? Wunschdenken? Jedenfalls können die Mélanie von 1998 und der Ludovic von 2025 einander sehen, miteinander reden, sich gegenseitig Dinge zeigen. Nur berühren können sie sich nicht. Bald wird Ludovic klar, dass Mélanie damals von demselben Täter ermordet worden sein muss wie das jüngste Opfer und wie weitere Frauen in der Zeit dazwischen. Die 98er Mélanie, mit der er sich fortan zweimal täglich am virtuellen Strand trifft, hat noch zwei Wochen bis zu ihrem Todestag. Ludovic will alles tun, um ihren Tod zu verhindern. Ein Experiment zeigt den beiden, dass jede Kleinigkeit, die Mélanie anders macht, spürbare Konsequenzen in Ludovics Realität nach sich zieht.

Und genau darin liegt der entscheidende dramaturgische Kniff. Denn Ludovic hat ein gutes Leben mit seiner zweiten Ehefrau Parvana (Zineb Triki), dem gemeinsamen Sohn Sam und der 27-jährigen, kurz vor Mélanies Tod geborenen Tochter Juliette (Anaïs Parello), die von Parvana liebevoll wie eine eigene Tochter aufgezogen wurde. All dies stünde auf dem Spiel, wenn Mélanie 1998 nicht sterben würde. Es macht den großen Reiz der Serie aus, dass sie die Tragweite von Ludovics und Mélanies Entscheidungen in allen Details durchspielt, mit zahlreichen Schmetterlingseffekten, logischer Konsequenz und emotionaler Härte. Während auch die klassische Krimi-Spannung der Mödersuche durch etliche Irrungen und Wirrungen und alle sechs Folgen hindurch aufrechterhalten bleibt, sorgt der schier unlösbare Gewissenskonflikt der Hauptfigur für die noch größeren Gefühlsamplituden beim Publikum.

Als Koproduktion zwischen den öffentlich-rechtlichen Sendern France 2 in Frankreich und RTBF in Belgien, die während der Ausstrahlung von Netflix für den Rest der Welt erworben wurde, hatte "Vortex" genügend Budget, um die visuell anspruchsvolle VR-Umgebung in einem Virtual-Production-Set à la "The Mandalorian" oder "1899" hochwertig umzusetzen. Regisseur Slimane-Baptiste Berhoun deutet technologische Modernität nur da an, wo sie dramaturgisch notwendig erscheint, und setzt ansonsten – gerade am Strand – auf warme Farben und die Schönheit der Natur. Die Alltagsszenen in 2025 sind davon subtil mit kühlerem Licht und leichtem Blaustich abgesetzt. Die Musik von Olivier Coursier und Audrey Ismael, die viel zur Atmosphäre beiträgt, wurde 2022 auf dem TV-Fiction-Festival von La Rochelle als bester Soundtrack ausgezeichnet.

"Vortex", im Original mit deutschen Untertiteln auf Netflix