Die Einstiegsszene entfaltet gleich volle Dramatik: Ein führungslos umhertreibendes Segelschiff wird vor der südamerikanischen Küste gerettet – an Deck ein sichtlich erschöpfter Kapitän, dem neben seinen physischen Verletzungen auch das Grauen ins Gesicht geschrieben steht. Schnell wechselt die Szenerie nach Genua zu den Angehörigen einer seit einem Jahr vermissten Schiffsbesatzung, die sich in ihrer Hoffnungslosigkeit gegenseitig Trost zu spenden versuchen. Und noch ein Schnitt, diesmal ein Jahr zurück: Werftbesitzer Armando und sein Kapitän Luca begrüßen ihre Gäste an Bord des Segelschiffs Arianna, das nach Armandos verstorbener Tochter benannt ist. Zu zwölft ist ein Törn von Genua zu den Kanaren geplant.

Das Versprechen der ersten paar Minuten gilt für die volle Distanz von zwölf Episoden: "Survivors" verwebt seine Zeitebenen durch ständige Sprünge, die dem Publikum Aufmerksamkeit abverlangen, um nach und nach eine Ahnung davon zu bekommen, welch schlimme Dinge auf hoher See passiert sein müssen. Denn auf der gegenwärtigen Zeitebene wird schnell klar, dass nur sechs Mitglieder der zwölfköpfigen Reisegruppe überlebt haben, die nach ihrer Rettung zudem traumatisiert und verschlossen wirken.

Wer "Survivors" – im italienischen Original "Sopravvissuti" – sieht und sich dabei nicht das eine oder andere Mal an "Lost" erinnert fühlt, muss ein ziemlich kurzes Serien-Gedächtnis haben. Die Macher kokettieren sogar selbst mit der offensichtlichen Inspiration, indem sie ihr Titelplakat als klare Referenz auf den US-Kulthit gestaltet haben und indem Hauptdarsteller Lino Guanciale, der Kapitän Luca spielt, die "hohe Messlatte" dieser "ehrgeizigen Geschichte über tiefgreifende innere Veränderung" betont. Entwickelt wurde die Serie von Sofia Bruschetta, Ivano Fachin, Giovanni Galassi und Tommaso Matano, vier Studierenden aus dem ersten Jahrgang des Masterstudiengangs für serielles Schreiben in Perugia, der von Rai Fiction und dem italienischen Produzentenverband initiiert wurde. In der Drehbuchphase bekamen sie die erfahrene Headautorin Viola Rispoli an die Seite.

Survivors © Rai "Lost" lässt grüßen: Das Plakat von "Survivors" dürfte kein Zufall sein
Was "Survivors" ganz erheblich von "Lost" unterscheidet, ist der Genre-Mix. Zum Mystery-Thriller kommt hier – nicht untypisch für erfolgreiche italienische Fiction – eine starke melodramatische Komponente hinzu. Regisseur Carmine Elia hatte seine diesbezügliche Stilsicherheit schon 2017 mit der Rai-Serie "La Porta Rossa" unter Beweis gestellt, ebenfalls mit Lino Guanciale in der Hauptrolle und ebenfalls von DWDL.de bei "Made in Europe" empfohlen. Die tiefen emotionalen Konflikte der durch die Schiffskatastrophe auseinandergerissenen Familien und Paare, die nach der Rettung in den Alltag zurückfinden müssen, erhalten in "Survivors" annähernd gleiches erzählerisches Gewicht wie das spannungstragende Mysterium, welche Extremerfahrungen die Überlebenden verheimlichen.

Das lässt sich beispielhaft an Luca festmachen: An Bord der natürliche Anführer, der seine Mitreisenden nach Kräften zusammenhält und sie anspornt, ihre Menschlichkeit zu bewahren, als sie in ein schweres Unwetter geraten und havarieren, wird er nach der Rückkehr nach Genua zum zentralen Bezugspunkt für die Überlebenden. Um die angedeutete Tragödie – Piratenüberfall? Hungertod? Bluttat unter den Seglern selbst? – hinter sich zu lassen, setzt er alles daran, das Geheimnis zu verbergen, das ihn und die anderen an die Arianna kettet. Zugleich verzweifelt er, als herauskommt, dass seine Frau Sylvie eine Affäre mit seinem Freund und Kollegen Stefano hatte, weil beide annahmen, Luca sei längst tot.

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So oder ähnlich hat jeder der Überlebenden seine Päckchen zu tragen, von denen Regisseur Elia treffend sagt: "Diese Figuren begeben sich auf eine allegorische Reise in den Sturm, wo Lügen zu einem notwendigen Mittel werden, um eine schmerzhafte Realität zu überleben." Zur Gegenspielerin entwickelt sich die Polizistin Anita (Pia Lanciotti), deren Sohn auf dem Schiff gestorben ist. Sie wird hellhörig, als die Überlebenden sich in Widersprüche verstricken, und versucht die Wahrheit aufzudecken. Längst nicht alles, so viel sei verraten, ist am Ende klar. Ein Teil des Geheimnisses bleibt als Vorahnung auf die zweite Staffel. Auch darin folgt man dem Vorbild "Lost".

Dass es "Survivors" gelingt, über eine für heutige High-End-Serien ungewohnte Länge von zwölfmal 50 Minuten die Spannung zu halten, die nicht gerade kleine Zahl von Figuren überzeugend zu führen und den speziellen Genre-Mix auszubalancieren, stellt eine bemerkenswerte Kreativleistung abseits des Üblichen dar. Und beweist ganz nebenbei, dass die European Alliance von France Télévisions, Rai und ZDF, in deren Rahmen die Serie koproduziert wurde, nicht nur für Mega-Tanker wie "Der Schwarm", sondern auch für mittelgroße TV-Perlen gut sein kann.

"Survivors", ab sofort in der ZDF-Mediathek sowie sonntags um 20:15 Uhr (je vier Folgen) auf ZDFneo