Dass der Mensch des Menschen Wolf ist, hat ein Dichter namens Plautus schon vor weit mehr als 2000 Jahren zu Pergament gebracht. Wobei vermutlich nur Literaturkundige wissen, dass der legendäre Satz seiner weit weniger berühmten Komödie "Assinaria", zu Deutsch: Eseleien noch weiter ging. Der Verdacht nämlich, Homo sapiens sei mit Canis lupus identisch, bestehe nur, "solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist".

Im Lateinischen klingt die Raubtiermetapher zwar noch gehaltvoller. Auch auf Norwegisch aber entfaltet der Kalenderspruch vom unsichtbaren homo homini lupus philosophische Wucht, die eine Fiktion von oben im Norden nur noch lebendiger macht. "Fenris" heißt sie in Anlehnung an ein mythisches Fellwesen und erzählt davon, wie die uralte Angst vorm bösen Wolf nicht nur dessen europäische Ausrottung überstanden hat, sondern noch immer das Denken, das Handeln und alles dazwischen beherrscht.

Im Niemandsland der norwegischen Provinz, wo die Wälder neblig sind und die Leute irgendwie auch, verschwindet ein Jugendlicher spurlos. Beinahe spurlos zumindest. Unmittelbar davor nämlich tappt der 15-jährige in eine Fotofalle des schrulligen Naturforschers Marius Storhammar (Magnus Krepper), mit denen er die Population zurückgekehrter Wölfe dokumentiert. Für Fans wie seine Tochter, die aus Oslo herbeigerufene Biologin Emma (Ida Ilse Broch), ist das ein Zufall. Für Feinde dagegen, also praktisch alle anderen vor Ort, der Ernstfall.

Von wegen homo homini lupus: nur der Wolf, darüber herrscht unter einfachgestrickten, märchengeprägten, landwirtschaftlich tätigen Eingeborenen rasch Einigkeit, ist des Menschen Wolf. Und jetzt hat er sich, dank gütiger Mithilfe kauziger Waldschrate (Marius) und ihrer verzärtelten Stadtkinder (Emma) auch noch sein erstes Opfer gerissen. So jedenfalls sehen es Einheimische vom Landwirt über die Polizei bis hin zu Daniels Eltern. So titelt auch die Lokalzeitung, deren Osloer Mantelredaktion "einen Scoop" wittert, verfolgt, erlegt.

Wenn Regisseur Simen Alsvik – bekannt geworden durch den Mafia-Spaß "Lilyhammer" – sechs Teile lang bei Magenta TV die fiebrige Jagd nach echten oder falschen Opfern und Tätern schildert, geht es also weniger um einen Kriminalfall am Urlaubsziel. Es geht um uns. Unsere Furcht, unseren Hass, unser richtiges Leben im Falschen und umgekehrt. Unsere Ignoranz, unseren Groll, unser Verlangen, im Angesicht dessen, was nicht sein darf, zu bezweifeln, was wirklich ist.

Es geht demnach um das, was Wissenschaftsfeindlichkeit, Verschwörungsideologien, Populismus in Kommunikation, Demokratie, Zivilgesellschaft anrichten. Und weil die Schatten intellektueller Zwerge dem Satiriker Karl Kraus zufolge wachsen, falls die Sonne der Kultur sinkt, befindet sich Norwegens Postkartenidyll bei Alsvik meist im Dämmerlicht beharrlicher Tiefdruckgebiete. Wer "Fenris" aufmerksam verfolgt, findet im vermeintlich schönsten Land der Erde deshalb überall nur Autobahnen, Arbeitslosigkeit und passive Aggressivität.

Ständig ist es in Bullerbü zu dunkel, traurig, zu diesig und trist. Viereinhalb Stunden lang lacht hier bis auf Emmas minderjährigen Sohn (altersunabhängig grandios: Viljar Knutsen Bjaadal) praktisch niemand. Schon gar nicht Daniels arbeitslose Eltern Kathinka und Knut Ove, denen Julia Schaacht und Jon Emil Jørgensrud eine Wohlstandsverwahrlosung am Rand des Dokumentarischen in einer Atmosphäre verpassen, die Uno Helmerssons Soundtrack nur punktuell mal mit einer einzelnen Geige zersägt.

Und wie der norwegische TV-Star Ida Ilse Broch ("Weihnachten zu Hause") die Tierschützerin Emma glaubhaft melodramatisch durch einen Sumpf verschütteter Kindheitstraumata manövriert, ist fabelhaft gespielt, aber schwer zu ertragen. Was nicht mit "unerträglich" verwechselt werden sollte. Denn weniger trotz als wegen der dauernden Tristesse, ist "Fenris" ein Serienereignis, das seinesgleichen sucht. Keine Wut, kein Verzagen, kein noch so krasses Gefühl wirkt hier je aufgepfropft. Sogar der fernsehkriminalistische Twist, nahezu alle Protagonistinnen und Protagonisten irgendwie verdächtig zu gestalten, dient offenbar keinem Spannungsaufbau Richtung (Un-)Happyend, sondern erklärt sich aus der Figurenzeichnung.

So erinnert "Fenris" an ähnliche Milieustudien abgehängter Landstriche wie "Das Verschwinden" oder "Broadchurch", in denen die Provinz an sich selbst verzweifelt und Schuldige dafür sucht. "Ausländer" zum Beispiel, "Heizhammer" und "Eliten" oder im boulevardentfachten Fegefeuer der Fake-News: Wölfe. Dass die in Daniels Fall nur Platzhalter des Bösen sind, erklärt uns Elvira (Helena F. Ødven) schon früh auf die Frage eines Reporters, ob ihr vermisster Freund denn Angst vor denen habe. "Er ist ja nicht dumm", antwortet sie entrüstet. "Nur Idioten haben Angst vor Wölfen."

"Fenris" steht exklusiv bei Magenta TV zum Streamen bereit