Manchmal muss man Kulissen aufbauen, um sie gleich wieder kurz und klein zu schlagen. Die gemütliche Berliner Altbauwohnung von Familie Tempel zum Beispiel: Zwei vermummte Gestalten sorgen mit Baseballschlägern dafür, dass Lampen in tausend Teile splittern, Möbel bersten und die Geige von Tochter Juni nachher keinen Ton mehr von sich gibt. Doch Familienvorstand Marc, gespielt von Ken Duken, will sich dieses brutale Mobbing nicht bieten lassen. Also nimmt er den Kampf gegen den Kiezpaten (Aleksandar Jovanovic) auf, der die komplette Nachbarschaft rausekeln will, um mit Luxussanierungen Profit zu machen.

Das ist die Ausgangssituation von "Tempel", der ersten Dramaserie von ZDFneo (DWDL.de berichtete), die ab November im Programm laufen soll – "unser größtes Projekt in diesem Jahr, auf das wir mit sehr viel Herzblut hingearbeitet haben", sagt Senderchefin Simone Emmelius. "Mit 'Tempel' steigt ZDFneo im Fiktionalen in eine Gewichtsklasse ein, die eine große Herausforderung ist."

Kampf um bezahlbaren Wohnraum

Gedreht wird noch bis Juni in den alten Industriehallen von Berlin-Oberschöneweide. Wer dort am früheren Generatorenhaus eine wackelige Eisentreppe hinaufsteigt, steht fast schon direkt im Boxring, dem wichtigsten Set der Produktion. Dorthin kehrt Marc Tempel in der Serie zurück, weil er sich von seinen alten Kumpels Hilfe gegen die Immobilienmafia erhofft. Und steigt wieder selbst in den Ring, obwohl er seiner im Rollstuhl sitzenden Frau Sandra (Chiara Schoras) schon vor Jahren versprochen hatte, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Der zermürbende Kampf um bezahlbaren Wohnraum in der Stadt ist ein zentrales Motiv in "Tempel". "Wir wollen eine Geschichte mit aktuellem Bezug zu Berlin und Deutschland schaffen – und eben keine amerikanische Serie kopieren", erklärt Uwe Urbas von der Produktionsfirma Polyphon die Grundidee. Geschrieben wurden die Bücher von Conni Lubek.

Hauptdarsteller Ken Duken steht in Boxer-Montur am Set und sieht mit kurz geschorenen Haaren und Vollbart so aus, als könnte er augenblicklich für die nächste "Vikings"-Staffel wegengagiert werden. Vor allem die Ambivalenz seines Charakters habe ihn für das Projekt neugierig gemacht: "Von außen betrachtet fragt man sich erst: Warum reagiert Marc so extrem? Der Verlauf der Geschichte macht sein Handeln jedoch für die Zuschauer glaubwürdig. Genau das hat mich auch an der Rolle gereizt."

Am Set der ZDFneo-Serie Tempel© ZDF/Uwe Urbas

Die Produktion wird in Mainz zwar von der HR Fernsehspiel II unter der Leitung von Heike Hempel verantwortet (Redaktion: Bastian Wagner), entsteht aber explizit nicht als Koproduktion fürs Hauptprogramm. Deshalb muss sie auch keine Rücksicht auf die Sehgewohnheiten dessen Zuschauer nehmen. "Wir wollen die Themen der ZDFneo-Zielgruppe auf Augenhöhe erzählen, wie eine Familie im Alltag darum kämpft, sich ihre Werte und ihr kleines Glück zu erhalten", meint Emmelius im Gespräch mit DWDL.de. "'Tempel' ist die bewusste Entscheidung, eine Serie für das ZDFneo-Publikum zu produzieren, die in ihrer ganzen Form profilbildend für den Sender steht."

Dreckiger als die Realität

Das gilt auch für den Look, den man nicht sofort mit einer ZDF-Produktionen in Verbindung bringen würde. "'Tempel' wird in Cinemascope gedreht, weil wir uns entschlossen haben, im Bild breiter zu erzählen", sagt Urbas. Zudem wird die "Unterwelt", bestehend aus Box-Halle und einem angeschlossenen Bordell, durch Filter in der Nachbearbeitung noch dreckiger als sie sowieso schon ist. Damit knüpft Neo an das an, was das Publikum aus internationalen TV-Serien gewöhnt ist.

Besagtes Bordell ist Im vierten Stock des Generatorenhauses aufgebaut: mit schummriger Bar, puffig-roter Tapete an den Wänden und Kundenzimmer mit Leopardenbett und Badewanne. Ein Großteil des Budgets fließt bei "Tempel" in die Ausstattung, um die Geschichte im glaubwürdigen Umfeld zu erzählen. Vielleicht sieht jetzt alles ein bisschen zu verrucht und runtergerockt aus: Boxsäcke sind notdürftig mit Tape repariert, die Schränke fallen auseinander, aus der Wand ragen die Strahlträger.

Am Set der ZDFneo-Serie Tempel© ZDF/Uwe Urbas

Aber das muss wohl so sein. Immerhin nimmt sich "Tempel" nur sechs Episoden für seine Geschichte Zeit. Jede Folge dauert eine halbe Stunde Zeit – ungewöhnlich für eine Drama-Produktion. Emmelius erklärt: "Es war unser dezidierter Wunsch, 'Tempel' in 30-Minuten-Episoden zu erzählen. Das ermöglicht es uns, die Handlung stärker zu verdichten als das in anderen Serien üblich ist. Und wir dürfen nicht nur linear denken, sondern wollen auch dem netzaffinen Sehverhalten entsprechen." Das heißt: Die erste ZDFneo-Dramaserie ist auch ein Stück weit dafür produziert, in der Mediathek gesehen zu werden.

Sparsam mit Außendrehs

Um Zeit und Geld zu sparen, sind von vornherein zwei Kameras gleichzeitig im Einsatz. Das spart Take-Wiederholungen. In der Regel kommen Handkameras zum Einsatz, damit keine Schienen verlegt werden müssen. Gleichzeitig lässt sich dadurch die Visualität der Serie beeinflussen, weil die Zuschauer mit den Protagonisten förmlich in die Szenen hineingehen können.

Aus Zeitgründen muss jede Szene mehrere Handlungsstränge vorantreiben. Außerdem arbeitet "Tempel" mit dramaturgischen Auslassungen: Das Publikum kriegt nicht jede Entwicklung der Handlung lang und breit erklärt. Die Disziplin bei der Produktion liegt natürlich auch daran, dass "Tempel" ein kleineres Budget zur Verfügung steht als das sonst bei deutschen Serien üblich ist. Gedreht wird vorrangig an den Sets, Außenaufnahmen halten sich in Grenzen.

Produktionsteam der ZDFneo-Serie Tempel© ZDF/Svea Pietschmann

Welche Summe ZDFneo investiert, verrät Emmelius nicht, sagt stattdessen nur, man habe "intern Budgets umgeschichtet". "Wir haben uns gefragt: Was lässt sich in Relation zur möglichen Reichweite verwirklichen? Dabei sind wir glaube ich mit Augenmaß vorgegangen. 'Tempel' ist deswegen aber keinesfalls eine Low-Budget-Produktion, und das sieht man der Serie auch an."

Die "Umschichtung" ist vor allem zu Lasten des Factual Entertainment gegangen, von dem ZDFneo lange Zeit tatsächlich einen ganzen Schwung (und ziemlich viel Überflüssiges) im Programm hatte. Emmelius klingt so, als ließe sich die Reduktion verkraften: "Wir haben gemerkt, dass wir mit Factual Entertainment in der Primetime zu wenig Zuschauer erreichen. Das heißt aber nicht, dass wir ganz darauf verzichten: Voraussichtlich im Herbst wird es zwei weitere Factual-Events bei ZDFneo geben, die an 'Der Rassist in uns' und 'Plötzlich Krieg?' anknüpfen."

Ein halbes Jahr müssen die Zuschauer auf "Tempel" noch warten. Bislang steht nicht mal fest, ob der Arbeitstitel bleibt. Dabei passt der doch perfekt: Der Ring ist vielen Kampfsportlern auch als "Boxtempel" bekannt, und Marcs Familie hat mit ihrer Wohnung ihren ganz eigenen "Tempel" gefunden. Kann also alles bleiben, wie es ist. Ring frei!

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